Der Islam im Licht des Evangeliums I

Eberhard Troeger

Vorbemerkung

Für die meisten Muslime ist eine Beurteilung des Islam im Licht der Bibel schwer zu akzeptieren, da sie es zu selbstverständlich gewohnt sind, einseitig den christlichen Glauben im Licht des Korans zu beurteilen. Aus Gründen der Fairness müssen Muslime es lernen, umgekehrt auch ihrem Glauben in Frage stellen zu lassen. Sie müssen akzeptieren, dass Christen von ihrem Glauben genauso überzeugt sind wie Muslime von ihrem eigenen Glauben. Nur unter dieser Voraussetzung kann von einem ehrlichen Dialog gesprochen werden.

Der Islam ist in sich sehr vielschichtig. Es ist mein Anliegen, den breiten Strom muslimischen Selbstverständnisses zu erfassen, was dem Nichtmuslim natürlich immer nur annährend gelingen kann.

Dabei unterscheide ich zwischen dem Islam als einer geistigen Größe und dem einzelnen muslimischen Menschen. Die kritische Auseinandersetzung mit einer Weltreligion ist m.E. von der Begegnung mit dem konkreten Menschen zu trennen.

Mit den meisten Muslimen bin ich darin einig, dass die Frage nach der Wahrheit nicht ausgeklammert werden kann. Wahrheit ereignet sich nicht einfach in der Begegnung von Menschen, sondern ist eine 'absolute', außerhalb des Menschen seiende Größe.

Für viele Muslime ist es selbstverständlich, dass die Gottesoffenbarung, die Muhammad nach islamischem Glauben empfing, 'die absolute Wahrheit' ist. Diese fundamentalistische Position ist heute unter Muslimen sehr verbreitet. Man kann mir natürlich den Vorwurf machen, dass ich mich auf diese fundamentalistische Denkebene begebe und eine Konfrontation von zwei Wahrheitsansprüchen betreibe, wenn ich mich auf die Bibel als auf die offenbarte göttliche Wahrheit berufe.

Das ist aber nur sehr bedingt richtig. Islam und biblischer Glaube haben ein sehr unterschiedliches Offenbarungsverständnis. Der Islam gründet sich letztlich auf ein Buch, den Koran, während der christliche Glaube sich auf eine Person gründet, Jesus Christus. Deshalb sind muslimischer und christlicher 'Fundamentalismus' letztlich nicht vergleichbar.

Zwar kennen Christen Jesus Christus nicht anders als durch die Schriften des Neuen Testamentes. Aber nach christlichem Glauben sind diese Schriften nicht eine Glaubensnorm im koranischen Sinne, sondern das vielstimmige Zeugnis vom Handeln Gottes in Jesus Christus, welches durch den Geist Gottes auch für jede neue Generation zum lebendigen Gotteswort wird.

Ich zitiere den Koran nach der Übersetzung des deutschen Islamwissenschaftlers Rudi Paret (Der Koran, Übersetzung, Stuttgart, Berlin, Köln, Mainz 5. Aufl. 1989). Die Verszählung entspricht der heute allgemein üblichen Kairoer Zählung. R.Parets Übersetzung enthält paraphrasierende Einschübe, die in Klammern gesetzt worden sind, also nicht im arabischen Text stehen, sondern eine Deutung des Sinnes wiedergeben. Da der arabische Korantext aus Reimprosa besteht, sind die Sätze oft äußerst knapp und vieldeutig. Koranübersetzungen und -auslegungen können deshalb sehr von einander abweichen.

Methodisch gehe ich so vor, dass ich den wesentlichen Epochen des von der Bibel bezeugten göttlichen Heils folge und frage, wie sich der Islam im Licht dieser biblischen Heilsgeschichte verstehen und einordnen lässt.

Die Begriffe in Bibel und Koran sind ähnlich – der Inhalt ist unterschiedlich

Der Islam entstand etwa 500 Jahre nach Abfassung der letzten biblischen Schriften. Ein direkter biblischer Bezug auf den Islam ist deshalb ausgeschlossen. Eine biblisch begründete Beurteilung des Islam kann sich daher nicht auf einzelne Bibelverse, sondern nur auf das biblische Gesamtzeugnis stützen.

Im Koran sind zahlreiche biblische Ausdrücke und Themen aufgenommen worden, z. B. die Barmherzigkeit und die Gnade Gottes, die Sünde des Menschen, das Gebet zu Gott usw. Sie haben jedoch im Zusammenhang des islamischen Glaubens einen neuen Bedeutungsinhalt bekommen. Es ist deshalb eine unzulässige Vereinfachung, unkritisch die der Bibel und dem Koran gemeinsamen Begriffe aufzuzählen und daraus den Schluss zu ziehen, dass eine weitgehende Übereinstimmung zwischen beiden herrsche. Jeder koranische Ausdruck muss vielmehr im Gesamtzusammenhang des Korans gesehen werden, wie das in gleicher Weise für die biblischen Begriffe gilt.

Erlösung und Auslösung in Bibel und Koran

Das arabische Wort kaffâra wird in der arabischen Bibel für das stellvertretende Sühneopfer Jesu gebraucht. Als Beispiel zitiere ich 1. Johannesbrief 4,10: "Darin besteht die Liebe: nicht, dass wir Gott geliebt haben, sondern dass er uns geliebt hat und gesandt seinen Sohn zur Versöhnung für unsere Sünden." (1. Joh. 4, 10). Das gleiche Wort wird im Koran gebraucht, wenn es darum geht, eine Schuld durch ein gutes Werk zu sühnen: "Gott belangt euch (beim Gericht?) nicht wegen des (leeren) Geredes in euren Eiden. Er belangt euch vielmehr, wenn ihr eine (regelrechte) eidliche Bindung eingeht (und diese dann nicht haltet). Die Sühne dafür besteht darin, dass man zehn Arme beköstigt, so wie ihr gewöhnlich (w. im Durchschnitt) eure (eigenen) Angehörigen beköstigt, oder sie kleidet oder einen Sklaven in Freiheit setzt. Und wenn einer keine Möglichkeit (zu derartigen Sühneleistungen) findet, hat der (dafür) drei Tage zu fasten. Das ist die Sühne für eure Eide, wenn ihr schwört (und hierauf eidbrüchig werdet)." (Sure 5,89).

Der Unterschied im Gebrauch des Wortes kaffâra ist deutlich. Im Islam sühnt der Schuldiggewordene seine Schuld selbst, während der Christ sich zu dem stellvertretenden Sühnopfer Jesu Christi bekennt. Die unkritische Feststellung, dass sowohl die Bibel als auch der Koran Sühne kennen, würde an dem eigentlichen Sachverhalt völlig vorbeiführen!

Das Gebet in Bibel und Koran

Das arabische Wort salât meint im Koran das rituelle Gebet, in welchem Muslime sich fünfmal am Tage als Sklaven vor ihrem Herrn niederwerfen. Davon unterschieden wird das Du'â-Gebet, ein Bittgebet, das Muslime zu jeder Zeit oder in bestimmten Lebenssituationen beten können. In der arabischen Bibel wird salaat für das biblisch verstandene Beten gebraucht, bei welchem ein persönliches Gottesverhältnis vorausgesetzt wird. Beten ist hier zuerst das Anrufen, Loben und Bitten des Vaters Jesu Christi, der sich in seinem Heilshandeln als der liebende, treue und nahe Gott erwiesen hat. Der Unterschied zwischen dem christlichen und dem muslimischen salât ist offensichtlich!

Fortsetzung folgt!

Quelle: Vom Verfasser leicht überarbeiteter Ausschnitt aus: E. Troeger, Kreuz und Halbmond. Was Christen vom Islam wissen sollten, Wuppertal 1996, S. 114ff. Mit freundlicher Genehmigung des Verlages.