Brief 8
Lieber Abdullah,
wie versprochen, schicke ich Dir hier eine Abschrift von einer Geschichte. Ich hörte, sie soll auf einer wahren Begebenheit beruhen. Aber auch, wenn sie eine Prosadichtung wäre, tut ihr das keinen Abbruch. Hier ist sie also:
Vor über hundert Jahren lebte in einem Dorf an der Westküste Indiens ein alter Mann. Er lebte allein in seinem einfachen Häuschen, denn er hatte wohl keine Familie mehr. Weil er ein frommer Hindu war, überlegte er nach einer Abendmeditation, wie er sich auf den Tod und damit auf ein nächstes Leben vorbereiten könnte.
Hindus glauben ja, daß die Seele eines Menschen beim Tod in einen anderen Körper übergeht, der zu diesem Zeitpunkt gerade geboren wird. Das mag der Körper irgendeines Tieres sein oder auch ein menschlicher Leib. Sein Karma, das Schicksal, bestimmt, wohin eine Seele neu inkarniert wird. Es basiert auf der Qualität des vorangegangenen Lebens. Dieser Lebenszyklus von Geborenwerden und Sterben wird so lange fortgesetzt, bis die Vollendung erreicht ist, um ins Mokscha, die Weltseele, einzugehen. Das ist dann das Ende der persönlichen Existenz, die Auflösung des Ichs.
Somit versucht jeder gläubige Hindu sich Verdienste zu schaffen, um im nächsten Leben eine Stufe höher geboren zu werden, um baldmöglichst ins Mokscha hinüberwechseln zu können. Und so entschied der fromme Mann, sich auf den langen Weg nach Benares zu machen, der Stadt am heiligen Ganges. Und um auch wirklich Verdienst zu sammeln, wollte er sich auf seinen Knien dorthin begeben.
Bevor er die lange und überaus aufwendige Reise antreten wollte, lud er zum Abschied einen langjährigen Freund aus dem Nachbardorf ein. Beim Abendessen erzählte er diesem Freund von seinen Plänen. Da dieser ein Christ war, glaubte er nicht Seelenwanderung. Er wußte auch von der Bibel, daß man Frieden mit Gott nicht erarbeiten oder verdienen kann, sondern nur aus Gnade als ein Geschenk von Gott empfangen kann. Darum bat er den alten Hindu innigst, sein Vorhaben aufzugeben. Du wirst keine 50 Meilen schaffen, dann wirst du nur noch blutige Stumpen haben. Die werden infiziert, und du wirst elendig umkommen, gab er zu bedenken. Doch der alte Mann wollte seinen Plan nicht aufgeben. Und wenn ich schon umkomme, meinte er, ist es auch gut, denn schon wer auf dem Weg zum heiligen Ganges stirbt, hat sich damit einen Verdienst gesichert.
Es war nun schon dunkel, und nach dem Essen zündete der alte Mann ein Öllämpchen an, verschob ein Möbelstück, nahm eine Fußmatte auf und legte dadurch eine kleines Loch im Boden, eine Art kleines Geheimfach, frei. Dem entnahm er ein kleines Kästchen. Als er es im Schein des Lämpchens öffnete, glaubte der Freund seinen Augen nicht. Es enthielt eine riesengroße Perle mit einem außergewöhnlich schönen Lüster.
Der alte Mann unterbrach das Schweigen und erzählte seine Geschichte: Ich war einmal ein Perltaucher. Tag für Tag fuhren wir mit unserem Boot in die Korallenriffe, wo wir nach Perlmuscheln suchten. Mein Sohn war immer dabei. Er war wohl der beste Perltaucher entlang der Küste. Eines Tages fand er eine besonders große Muschel. Sie war sehr tief an einem Riff verankert. Mehrere Male versuchte mein Sohn vergeblich, diese Muschel zu lösen. Dann setze er seine letze Kraft ein und brach sie endlich los. Er hatte noch den langen Weg nach oben um aufzutauchen und warf erschöpft die Muschel ins Boot. Doch die Lunge war durch den Druck und die zu lange Zeit unter Wasser überanstrengt worden. Er kämpfte mit seinen Emotionen und fuhr dann fort: Blut lief aus seinem Mund, und er starb in meinen Armen.
Als ich dann später die Muschel öffnete, fand ich diese Perle. Sie war mir wie ein Heiligtum. Sie ist das Vermächtnis meines Sohnes. Ich habe sie auch niemandem gezeigt. Du bist der erste und ich möchte sie dir, meinem treuen Freund, zum Abschied schenken.
Der Freund war tief gerührt und wies dieses übergroße Geschenk sanft, aber entschieden zurück. Doch der alte Mann drängte ihn sie anzunehmen. Da kam dem Freund ein Gedanke. Er sagte: Ein so großes Geschenk kann ich nicht annehmen, aber ich will dir die Perle abkaufen. Leider bin ich zu arm, um dir einen auch nur halbwegs angemessenen Preis zu zahlen. Aber ich habe 900 Rupien gespart, und die will ich dir dafür geben.
Der alte Mann konnte es nicht fassen. In einer Mischung von Wut, Abscheu und Trauer schrie er seinen Freund an: Sag mal, schämst du dich nicht, mir so ein Angebot zu machen? Mein einziger Sohn ist dafür gestorben! Er gab sein Leben für diese Perle! Und du bietest mir dreckiges Geld dafür an?!
Sei mir nicht böse, mein Freund, kam die Antwort, ich wollte nur, daß du etwas begreifen lernst. Mit Recht hast du mein Angebot abgelehnt. Ich hätte es genau so getan. Aber hast du mal bedacht, daß du Gott eben das gleiche Angebot gemacht hast? Du versuchst mit deinem Marsch zum Ganges für etwas bezahlen, was unbezahlbar ist und wofür Gottes Sohn sein Leben geopfert hat. Empfangen kannst du das nur, wenn du wie ein Bettler vor Gott stehst, und ihn darum bittest. Er wird es dir dann schenken. Das hat er versprochen!
Der alte Mann sann darüber nach und begann zu begreifen. Ein Licht ging ihm auf. Er gab sein geplantes Vorhaben auf und bat Gott um das, was er nie hätte erarbeiten können. Unsere Hände sind vor Gott ja immer leer. Wer könnte Gott schon etwas geben außer sein Herz? Und das gab der alte Mann nun seinem neuen Herrn. Er erhielt damit mehr, als er je erhoffen konnte, nämlich Frieden mit Gott.
Jesus erzählte ein Gleichnis, das hier anklingt:
"Mit der neuen Welt Gottes ist es wie mit einem Kaufmann, der auf der Suche nach kostbaren Perlen ist. Er entdeckt eine Perle von unschätzbarem Wert. Deshalb verkauft er alles, was er hat, und kauft dafür die Perle." (Matth. 13:45-46).
Wer ist hier wohl gemeint? Wer mag der Kaufmann sein, der alles gab, was er hatte (und das war sein Leben) um diese Perle zu kaufen? Und wer ist dann folgerichtig die Perle? Ob Du das sein könntest?
Mit diesem Gedanken möchte ich mich verabschieden.
Herzlichst, Dein
Theophilus