7.1 Die erste Flucht einiger Moslems

Als Muhammad erkannte, in welcher Not sich seine Gefährten befanden, während er selbst durch Allahs und seines Onkels Schutz unbelästigt blieb, sagte er zu ihnen: “Wie wäre es, wenn ihr nach Abessinien1 auswandern würdet? Dort regiert ein König, der kein Unrecht duldet. Es ist ein Land, in dem Aufrichtigkeit herrscht und in dem ihr bleiben könnt, bis Allah euch aus eurem jetzigen Zustand befreit.”

Aus Furcht vor Versuchung und um ihren Glauben zu retten, begannen die Gefährten Muhammads, nach Abessinien auszuwandern. Es war die erste Auswanderung der Gläubigen.

Die Gesamtzahl der Auswanderer, ohne die kleinen Kinder, die mitgenommen oder in Abessinien geboren wurden, belief sich auf 83 Personen, wenn Ammar ibn Yasir, bei dem es zweifelhaft ist, ob er dabei war, mitgerechnet wird.

Als die Moslems in Abessinien Sicherheit gefunden hatten und ohne Furcht Allah anbeten durften, weil der Nadjaschi ihnen lobenswerten Schutz gewährte, dichtete Abd Allah ibn al-Harith ibn Qays folgende Verse:

Benachrichtige von mir, wandernder Reiter, jeden, der Allah und den Glauben erhofft, jeden Diener des Herrn, der in Mekka der Verführung und der Gewalt ausgesetzt ist: Wir haben gefunden, daß Allahs Land geräumig ist und daß es gegen Erniedrigung, Schmach und Schande Schutz bietet. Verharret nicht in Erniedrigung in diesem Leben, in Beschämung nach dem Tode und in Sünden, bei denen es keine Sicherheit gibt. Wir sind dem Gesandten Allahs gefolgt, sie aber haben das Wort des Propheten verworfen und sind in der Waagschale hoch hinaufgestiegen. Strafe, o Allah, die Übeltäter, lasse sie nicht aufkommen und mir Gewalt antun.

7.2 Der Auslieferungsantrag der Quraischiten

Als die Quraisch erfuhren, daß die Gefährten Muhammads in Abessinien Ruhe und Sicherheit sowie feste Wohnplätze gefunden hatten, beschlossen sie, aus ihrer Mitte zwei tüchtige Männer zum Nadjaschi zu schicken. Sie sollten ihn bewegen, die Moslems wieder aus dem Lande zu treiben. Die Gesandten waren Abd Allah ibn Abi Rabi'a und Amr ibn al-'As ibn Wa'il. Man gab ihnen reichlich Geschenke für den Nadjaschi und die Patrizier mit.

Die Auswanderer (Asylanten) erzählten: “Als wir nach Abessinien kamen, gewährte uns der Nadjaschi den besten Schutz. Wir konnten in Sicherheit unserem Glauben anhängen und Allah anbeten. Niemand tat uns etwas zuleide, noch bekamen wir irgendwelche Unannehmlichkeiten. Als die Quraisch dies vernahmen, beschlossen sie, zwei tüchtige Männer zum Nadjaschi zu senden, die die besten Waren Mekkas als Geschenke bei sich hatten. Das Kostbarste darunter war Leder, mit dem man den Herrscher und seine Obersten reichlich beschenken wollte. Abd Allah ibn Abi Rabi'a und Amr ibn al-'As erhielten den Auftrag, zuerst den Patriziern ihre Geschenke zu überreichen und dann erst beim Nadjaschi vorzusprechen und ihm die für ihn bestimmten Gaben zu überreichen. Sie sollten ihn dann ersuchen, ihnen die Moslems ohne vorherige Anhörung auszuliefern.

Die Gesandten kamen in Abessinien an, wo sie den besten Aufenthalt bei dem hilfsbereiten Gastfreund gefunden hatten. Sie beschenkten alsbald, noch ehe sie den Nadjaschi gesprochen hatten, alle Patrizier und sagten zu ihnen: Es haben sich in das Land eures Königs junge, törichte Leute geflüchtet, die den Glauben ihrer Väter verlassen haben, aber euren Glauben nicht annehmen, die einen neuen Glauben gebracht haben, der uns und euch nicht bekannt ist. Darum schicken uns die Edelsten unseres Volkes zum König, um sie zurückzubringen. Wenn wir daher mit dem König darüber verhandeln, so ratet ihm, sie uns auszuliefern, ohne zu ihnen zu sprechen; denn ihr Volk kennt sie besser und weiß, was tadelnswert an ihnen ist.’

Als die Patrizier sich mit ihnen einverstanden erklärt hatten, überreichten die Gesandten ihre Geschenke dem Nadjaschi. Nachdem er sie angenommen hatte, wiederholten sie vor ihm, was sie den Patriziern gesagt hatten und baten ihn im Namen der Edelsten ihres Volkes – darunter auch Väter und Onkel der Ausgewanderten – sie auszuliefern. Die Patrizier, die den König umgaben, stimmten ihnen bei und sagten: “Gewiß kennen ihre Leute sie besser und wissen, worin sie sich vergangen haben. Darum liefere sie aus. Laß sie mit den Gesandten wieder zu den Ihrigen zurückkehren.” Die Gesandten fürchteten nichts mehr, als daß der Nadjaschi mit den Moslems sprechen würde.

Der Nadjaschi geriet in Zorn und rief: “Bei Allah, ich werde Leute, die in mein Land gekommen sind und meinen Schutz jedem anderen vorgezogen haben, nicht ausliefern, bis ich sie über das, was die Gesandten behaupten, verhört habe. Verhält es sich nach deren Aussage, so liefere ich sie aus und schicke sie zu ihrem Volk zurück, wenn nicht, so schütze ich sie und gestatte ihnen, hier zu wohnen, solange es ihnen beliebt.”

7.3 Der Nadjaschi befragt die Auswanderer2

Nun wurde ein Bote zu den Gefährten Muhammads geschickt, um sie zu rufen. Als der Bote zu ihnen kam, versammelten sie sich, und einer fragte den anderen: “Was wirst du dem König sagen, wenn du vor ihm erscheinst?” Sie antworteten: “Wir werden sagen, was wir wissen und was uns der Prophet anbefohlen hat, es entstehe daraus, was da wolle.”

Als sie vor den Nadjaschi kamen, der auch seine Bischöfe mit ihren Büchern um sich versammelt hatte, fragte er sie: “Was ist das für eine Religion, um derentwillen ihr euch von eurem Volke getrennt habt und die euch abhält, meinen oder irgendeinen anderen Glauben anzunehmen?” Dja’far, der Sohn Abu Talibs, antwortete hierauf: “O König, wir waren in Unwissenheit, beteten Götzen an und aßen totes Vieh. Wir begingen obszöne Dinge, verletzten die Verwandtenliebe und die Gastfreundschaft. Der Starke verzehrte den Schwachen, bis uns Allah einen Gesandten aus unserer Mitte schickte, dessen Abstammung, Wahrheitsliebe, Treue und Keuschheit wir kennen. Er forderte uns auf, Allah allein anzubeten und uns abzuwenden von Steinen und anderen Götzen, die wir und unsere Väter außer Allah noch angebetet hatten. Er befahl uns ferner, aufrichtig in unseren Worten zu sein, Treue zu bewahren, die Verwandten zu lieben und den Gast zu schützen, abzulassen von Verbotenem, kein Blut zu genießen, keine Schändlichkeiten zu begehen, nicht zu lügen, das Gut der Waisen nicht zu verzehren und tugendhafte Frauen nicht zu verleumden. Er hat uns befohlen, Allah ohne Genossen anzubeten, Almosen zu geben und zu fasten.”

Nachdem Dja’far noch andere Gebote des Islam aufgezählt hatte, fuhr er fort: “Mir hielten Muhammad für wahrhaftig und glaubten an ihn und folgten dem, was er uns als göttliche Offenbarung gebracht hat. Wir beten Allah allein an, ohne Genossen, entsagen dem, was er uns verboten und sahen als erlaubt an, was er uns erlaubt hatte. Da wurde unser Volk feindselig gegen uns und mißhandelte uns und suchte uns von unserem Glauben abtrünnig zu machen und uns zur Verehrung der Götzen zurückzuführen. Wir sollten die früheren Abscheulichkeiten wieder für erlaubt halten. Als sie Gewalt anwendeten, uns durch ihre Übeltaten in die Enge trieben und uns von unserem Glauben losreißen wollten, wanderten wir nach deinem Lande aus, zogen deinen Schutz jedem anderen vor und hofften, daß wir bei dir, o König, kein Unrecht zu dulden haben würden.”

Der Nadjaschi fragte ihn hierauf, ob er etwas von dieser göttlichen Offenbarung bei sich habe.

Als er bejahte, forderte er ihn auf, es ihm vorzulesen. Dja’far las ihm den Anfang der 19. Sure Maryam (Maria) vor. Da weinte der Nadjaschi so sehr, daß sein Bart naß wurde. Auch die Patrizier benetzten ihre Bücher mit ihren Tränen, als sie hörten, was er ihnen vorlas. Dann sagte der Nadjaschi: “Dieses und das, was Moses geoffenbart hat, kommt aus derselben Quelle. Geht! Ich bin weit davon entfernt, sie euch auszuliefern.”

7.4 Was die Auswanderer dem Nadjaschi über 'Isa gesagt haben

Als die Gesandten den Nadjaschi verlassen hatten, sagte Amr ibn al-'As: “Bei Allah, ich werde ihm morgen Dinge von ihnen berichten, durch die ihre grünen Pflanzen entwurzelt werden.” Abd Allah ibn Abi Rabi'a, der andere Gesandte, meinte: Tu es nicht, wenn sie uns auch widersprechen, so sind sie doch unsere Verwandten.” Amr erwiderte aber: “Bei Allah, ich werde dem König sagen, daß sie ‘Isa (Jesus), den Sohn der Maria, für einen Sklaven halten.”

Am anderen Morgen begab sich Amr erneut zum Nadjaschi und sagte: “O König! Sie führen schlimme Reden gegen Christus. Schicke nach ihnen und frage sie, was sie von ihm sagen.” Der Nadjaschi ließ sie holen, um sie über Christus zu befragen.

“Dies war,” so erzählte Umm Salama weiter, “das Gefährlichste, was uns je widerfahren ist. Die Auswanderer versammelten sich, und einer sagte zum andern: ,Was wollen wir von ‘Isa sagen, wenn wir über ihn befragt werden?” Sie beschlossen das zu sagen, was Allah geoffenbart und was Muhammad über ihn erklärt hatte. Es möge daraus folgen, was da wolle. Als sie nun zum Nadjaschi kamen und er sie fragte, was sie von ‘Isa hielten,3 sagte Dja’far: “Wir bekennen von ihm, was unser Prophet uns geoffenbart hat: ,Er ist ein Sklave Allahs, sein Gesandter, sein Geist und sein Wort, das er der Jungfrau Maria eingegeben hat’” (al-Nisa' 4,171).

Der Nadjaschi hob ein Stück Holz von der Erde auf und sagte: “Jesus, der Sohn Marias, ist nicht um dieses Stück Holz mehr als das, was du von ihm gesagt hast.” Die Patrizier, die um ihren König herumstanden, murmelten etwas. Er aber fuhr fort: “Murmelt nur!” – “Bei Allah,” sagte er dann zu den Ausgewanderten, “geht nur, ihr seid sicher in meinem Land. Wer euch beleidigt, soll bestraft werden!” Wer euch beleidigt, soll bestraft werden!’ wiederholte er. “Nicht um einen Berg Goldes möchte ich einem von euch etwas zuleide tun. Gebt den Gesandten ihre Geschenke zurück! Ich brauche sie nicht! Ich habe Allah nicht bestochen, als er mir mein Reich zurückgab; wie sollte ich mich gegen ihn bestechen lassen? Er hat den Gesandten kein Gehör geschenkt. Warum sollte ich gegen Allah ihrem Willen folgen?”

Die Gesandten zogen beschämt und ohne etwas erreicht zu haben ab.

Wir blieben bei dem Nadjaschi in bester Ruhe und unter bestem Schutz. Während wir in seinem Lande lebten, zettelte ein Abessinier einen Aufstand gegen den Nadjaschi an. Dies versetzte uns in größte Erregung. Wir befürchteten, der Nadjaschi könnte unterliegen und sein Widersacher unser Recht nicht so anerkennen wie er. Als der Nadjaschi gegen die Rebellen auszog und nur noch der Nil die feindlichen Heere trennte, sagten die Gefährten des Propheten: “Wer wird den Kampf beobachten und uns Nachricht über seinen Ausgang bringen?” Al-Zubair ibn al-Awwam, einer der Jüngsten, meldete sich. Sie waren damit einverstanden und bliesen einen Schlauch für ihn auf. Er hing ihn um seine Brust und schwamm darauf, bis er in die Gegend kam, in der die Schlacht stattfand. Wir aber beteten zu Allah, er möge dem Nadjaschi den Sieg geben und seine Herrschaft festigen.

Während wir der Dinge harrten, die kommen sollten, kehrte al-Zubair zurück, winkte mit seinem Gewand und rief: “Gute Botschaft! Der Nadjaschi hat gesiegt!” Allah hatte seine Feinde vertilgt. Bei Allah, wir haben noch nie eine größere Freude erlebt als damals.

Der Nadjaschi kehrte siegreich zurück, denn Allah hatte seine Feinde zugrunde gerichtet und seine Macht gefestigt, so daß ganz Abessinien sich um ihn scharte. Wir aber hatten bei ihm den angenehmsten Aufenthalt, bis wir zu Muhammad nach Mekka zurückkehrten.”

7.5 Die Empörung der Abessinier gegen den Nadjaschi

Dja’far ibn Muhammad hat mir von seinem Vater erzählt: “Eines Tages aber rotteten sich die Abessinier zusammen und warfen dem Nadjaschi vor: ‚Du hast dich von unserem Glauben losgesagt!’ Der Nadjaschi sandte zu Dja’far und seinen Genossen, rüstete ihnen ein Schiff aus und ließ ihnen ausrichten: ‚Geht auf das Schiff, und wenn ich in die Flucht geschlagen werde, so flieht, wohin es euch beliebt. Siege ich aber, so bleibt!’ Er schrieb dann auf ein Stück Papier: ‚Ich bekenne, daß es keinen Gott gibt außer Allah, daß Muhammad sein Sklave und Gesandter ist, daß Jesus sein Sklave und sein Gesandter ist, sein Geist und sein Wort, das er Maria eingehaucht hat.’ Er steckte dann diese Zeilen in die rechte Seite seines Oberkleides und zog den Abessiniern entgegen, die sich in Reihen zur Schlacht aufgestellt hatten. Er rief: ‚O ihr Abessinier, habe ich nicht das höchste Recht, über euch zu regieren?’ Sie antworteten: ‚Ja.’ Dann fragte er: ‚Wie habt ihr meinen Lebenswandel gefunden?’ Sie antworteten: So gut wie möglich.’ – ‚Was wollt ihr also?’ – ‚Du hast unseren Glauben verlassen und Jesus einen Sklaven genannt.’– ‚Und was glaubt ihr von Jesus?’ – ,Wir sagen, er ist Gottes Sohn.’4

Der Nadjaschi legte seine Hand auf die Brust und sagte: Ich bekenne, daß 'lsa, der Sohn Maryams, nichts anderes als dies war.’ Er meinte damit was in der Schrift, auf welche er seine Hand gelegt hatte, geschrieben stand. Die Abessinier gaben sich mit diesen Worten zufrieden und gingen auseinander.”

Als der Nadjaschi starb, verrichtete Muhammad das rituelle Bestattungsgebet (in Mekka) für ihn und flehte Allah um Gnade für ihn an.


Footnotes

1 Muhammad, der unter dem Sippenschutz Abu Talibs lebte, riet den sozial schlecht gestellten Moslems, in das christliche Abessinien auszuwandern. Die Christen dort gewährten den Moslems Asyl und retteten den Islam vor dem Untergang. Muhammad und die Moslems wußten, daß bei den Christen Aufrichtigkeit herrschte und Unrecht nicht geduldet wurde.

2 Die Anhörung der moslemischen Auswanderer gilt als die erste öffentliche christlich-islamische Disputation.

3 Die islamischen Asylanten betonten in der für sie gefährlichen Situation die positiven Elemente des christlichen Glaubens im Qur’an, verschwiegen aber ihre Leugnung der Gottessohnschaft Jesu und seiner Kreuzigung. So erschienen sie dem Nadjaschi als eine christliche Sekte, nicht aber als eine antichristliche Bewegung (Suren Maryam 19,17-35; Al 'Imran 3,34-59).

4 Der Glaube, daß Jesus nur ein Sklave Gottes war, widersprach der Auffassung der Kopten, die damals als Monophysiten die Gottheit Christi stärker herausstellten als seine Menschheit. So wirken sich die Glaubensauseinandersetzungen zwischen Arius und Athanasius und ihren Nachfolgern bis nach Abessinien hinein aus und zeigen, auf welche Seite sich Muhammad und die Moslems geschlagen haben. Der Islam wird bisweilen als eine arianische Sekte angesehen.