Ein Kampf der Bücher

Wieweit ist es ein Kampf der Bücher, wenn Evangelium und Koran aufeinander treffen?

Der Muslim wird einem drei Dinge vor Augen halten: Der Koran ist die dokumentarische Quelle des Islam. Der Koran ist ganz und gar inspiriert.

Der Koran enthält die absolute Wahrheit.

Der Christ wird sagen: Das Neue Testament ist die dokumentarische Quelle des Christentums, ist inspiriert und enthält die absolute Wahrheit.

Wenn diese beiden Bücher in allen Hauptfragen übereinstimmten, wie einige uns glauben machen wollen, dann könnten wir geringere Abweichungen leicht zum Ausgleich bringen und uns freudig und glücklich mit unseren islamischen Freunden zusammensetzen, ja, wir könnten sie dann Brüder im Glauben nennen. Nichts würde dem normalen Muslim mehr gefallen; denn das wäre genau das, was er ersehnt. Er spricht von uns als von "Leuten eines Buches" (Ahl-i-Kitab), und er hat Hochachtung vor unserem "Propheten" und unserem "Injil". Täten wir nur das gleiche mit seinem Propheten und seinem Koran, hätte die Geschichte ihr "happy end".

Aber Koran und Neues Testament widerstreiten einander von Grund aus. Zuerst eben darin, daß es zwei Bücher sind. Nimmt man das Neue Testament als Ganzes, bleibt kein Raum für die Möglichkeit eines weiteren Buches dieser Art. Auch der Koran, als Ganzheit genommen, läßt es sinnlos erscheinen, wenn wir uns an ein Buch klammern, welches der Koran für veraltet und außer Kraft gesetzt ansieht, jetzt, wo die endgültige, echte, vollkommene "Offenbarung", eben im Koran, gekommen ist. Zweitens besteht ein Widerspruch in wesentlichen und grundlegenden Lehren, der sich nicht ausgleichen läßt. Nur ein Beispiel: Der Koran bestreitet, daß Jesus am Kreuze starb und trotzdem am dritten Tage wieder lebendig war - eine Tatsache, die doch für das ganze Christentum von grundlegender Bedeutung ist!

Daraus ergibt sich, daß es zu einem "Kampf der Bücher" kommen muß. Wir müssen uns nun klar werden, welche Stellung wir innerhalb dieser Schlacht einnehmen.

Die dokumentarische Quelle

Gebildete Muslime sagen, der Koran sei die endgültige und zuverlässige Quelle des Islam. Im Alltagsleben der Muslime spielen ohne jeden Zweifel die Überlieferungen (Hadith) eine erhebliche Rolle. Vom wissenschaftlichen Standpunkt aus sind diese Traditionen hoffnungslos. In den Anfängen des Islam gab es Zehntausende solcher Überlieferungen. Wer eine Lehre oder Praxis oder einen Aberglauben als echt muslimisch ausgeben wollte, erfand eine "Tradition", um seine Sache zu unterstützen. Später wurden diese unzähligen Überlieferungen gründlich gesiebt und die große Mehrheit von den Muslimen selber ausgemerzt. Die, welche übrigblieben, wurden in Wahrscheinlichkeitskategorien eingeteilt. Verschiedene Richtungen benutzen verschiedenartige Überlieferungen. Auch in der Gegenwart ist es durchaus üblich, daß muslimische Schriftsteller Traditionen verwerfen oder ignorieren und nur die verwenden, die ihre Meinungen unterstützen. Kein Muslim würde es wagen, den Koran selbst auf diese Weise zu behandeln. Er mag eine neue Interpretation mancher Verse versuchen, wird aber nie und nimmer die Gültigkeit des Korantextes bestreiten.

Ebensowenig wird ein Muslim es darauf anlegen, für sein Buch außerhalb des Koran Stützen zu suchen. Er kann z.B. sagen, das Kommen des Propheten sei in der Bibel vorher verkündet, aber nie das Erscheinen des Koran. Dieser trägt seine Glaubwürdigkeit in sich selber. Außerhalb des Koran weiß der Mohammedaner nichts von Gott.

Das Buch ist seine einzige Erkenntnisquelle. Auch der Christ erklärt, das Neue Testament sei die dokumentarische Quelle des Christentums. Der Muslim sagt, man könne nicht am Koran vorbei zu Gott gelangen, könne vielmehr Näheres über Gott nur aus dem Koran lernen; der Christ versichert, man könne nicht an den Propheten und den Aposteln vorbei auf Jesus Christus selbst zurückgehen. Unser Herr hat kein Wort schwarz auf weiß zu Papier gebracht, er hinterließ aber den Eindruck seiner Persönlichkeit und Lehre bei einer kleinen Gruppe von Menschen, die wir Apostel nennen. Diese haben der Welt ihr Zeugnis von der Tatsache Christus und ihrer Bedeutung gegeben.

Eine andere Informationsquelle besitzen wir nicht. Durch ihr Zeugnis werden wir zum Alten Testament zurückverwiesen, um das Bild der Propheten vom Messias zu studieren.

Hier möchte ich lediglich darauf verweisen, daß der Muslim den Weg über den Koran nehmen muß, weil er nicht unmittelbar zu Gott gelangen kann, und daß ganz ähnlich der Christ keinen unmittelbaren Zugang zu Christus hat, sondern darauf angewiesen ist, den Weg zu ihm durch das Neue Testament zu nehmen.

Beide Seiten sind durch das geschriebene Wort gebunden. Keine Partei besitzt einen unmittelbaren Zugang. Beide nennen ihr Buch deshalb "das Wort Gottes".

Inspiration

Beide Seiten erheben den Anspruch, ihr Buch sei inspiriert. Wenn eine Religion sich auf ein Buch gründet, dann ist die Zuverlässigkeit dieses Buchs eine Frage von entscheidender Bedeutung. Absolute, ja "narrensichere" Zuverlässigkeit ist für den Muslim - so meint er - garantiert durch das Beharren auf einer vollen, wörtlichen und mechanischen Inspiration, welche Fehlerhaftes schlechthin zur Unmöglichkeit macht. Der Koran, so behaupten die Muslime, wurde im siebten Himmel auf Tafeln geschrieben. Zur Zeit von Mohammed wurde er (der Koran) in den untersten Himmel herabgebracht, und von da wurde er durch den Erzengel Gabriel Stück für Stück, je nach Bedarf, dem Mohammed gebracht. Als dieser Vorgang sein Ende gefunden hatte, wurde das Original erneut in den höchsten Himmel befördert, wo es in alle Ewigkeit existiert. Der Koran hier auf Erden ist die exakte Wiedergabe jenes in den Himmeln in alle Ewigkeit vorhandenen Buches. Die Kapitel und Verse, die den Eindruck erwecken, daß sie recht zufällig in diese Reihenfolge gebracht wurden, geben genau die Gestalt des Originals wieder. Es gibt demzufolge keine verschiedenen Lesarten, es kann sie nicht geben. So hat sich der Muslim - nach seiner Überzeugung narrensichere Zuverlässigkeit gesichert; eine Kritik am Korantext ist undenkbar.

Christen und einzelne Muslime haben diese ganze Darbietung mit Hilfe der Geschichte in Frage gestellt. So kann geschichtlich aufgezeigt werden, daß erst der dritte Kalif Otman die erste autorisierte Version des Koran herstellen und alle anderen Versionen verbrennen ließ! Dadurch wurden mehrere Aufstände ausgelöst. Die Menschen waren nicht darauf vorbereitet, ihre Version des Koran nur deshalb aufzugeben, weil just ein Kalif sagte, sie müßten das. Auch ist geschichtlich erwiesen, daß die diakritischen Unterscheidungsmerkmale in der arabischen Schrift erst eingeführt wurden, als der Koran bereits in verschiedenen Ländern weit verbreitet war. Darüber gab es Streit, und manche behaupteten, die Hinzufügung der diakritischen Zeichen in den Text laufe auf menschliche Eingriffe in Gottes Wort hinaus.

Von den Traditionen sollen zwei interessante Geschichten erwähnt werden. Eine besagt: Aischa hatte zwei neue Offenbarungen unter ihrem Bett, als Mohammed starb, die sie aber in der Verwirrung vergaß. Als sie später danach suchte, waren sie verschwunden, vielleicht von einem Haustier aufgefressen.

Die andere Überlieferung berichtet von Omars Klage, weil er sich an einen Offenbarungsvers erinnern konnte, den er jetzt nirgendwo mehr fand. Er klagte bestimmte Personen an, ihn vernichtet zu haben.

Die Mehrheit aller Muslime glaubt nach wie vor, es mit dem Buch der Bücher zu tun zu haben, wo Wort für Wort, Buchstabe für Buchstabe und Vers für Vers unfehlbar und göttlich seien, und dies Buch der Bücher ruhe nun im siebten Himmel für alle Ewigkeit. Eine radikalere Inspirationstheorie läßt sich kaum denken.

Auch jeder Christ besitzt irgendeine Theorie der Inspiration. Wie die Muslime glaubt auch er, daß sein Buch zuverlässig ist; sonst hat er nichts, worauf er seinen Glauben stützen kann. Aber die Entwicklung im Christentum verlief ganz anders als im Islam. Da gab es vor allem einmal die mündliche Tradition. Dabei war es wichtig sicherzustellen, daß das Weitergereichte auch tatsächlich durch die Autorität der Apostel gedeckt war. Die Zuverlässigkeit sowohl der Tatsachen als der Interpretation beruhte auf der winzigen Gruppe von Menschen, die wir als die Apostel bezeichnen.

Wir wissen wenig von der Entwicklung der ersten zweihundert Jahre. Sobald die Quellen mehr Auskunft geben, finden wir drei große Zentren des Christentums, die keinen ganz gleichlautenden Kanon Heiliger Schriften haben. Aber trotz verschiedener Abgrenzung des Kanons bestand eine allgemeine Übereinstimmung der Lehre. Kämpfe um die rechte Lehre drehten sich nicht darum, ob dieses oder jenes Buch inspiriert war, sondern darum, ob eine bestimmte Lehre durch die Autorität der Apostel gestützt wurde. Erst im 16. Jahrhundert erklärte die Kirche: Ich glaube, daß die und die Bücher inspiriert sind und keine anderen. In all den Jahrhunderten, in denen die Kirche ihre Lehre formulierte, wurde keine Theorie der Inspiration oder des Kanons in die Lehraussagen mit aufgenommen.

Christen akzeptieren die Verläßlichkeit der Apostel auf der Grundlage eines Glaubens, daß sie inspirierte "Vehikel" der Wahrheit gewesen seien. Der Mohammedaner akzeptiert seinen Propheten auf ganz ähnliche Weise. Beide versichern: Mein Buch ist verläßlich, weil es inspiriert ist. Und so muß es zu einem Kampf der Bücher kommen.

Absolute Wahrheit

Der dritte Streitpunkt ist die Frage nach der absoluten Wahrheit. Der Muslim erhebt den Anspruch, sein Buch enthalte die absolute Wahrheit. Der Koran tut kund, was eschatologisch geschehen wird, und lehrt, was Gottes ewige Wahrheit für den irdischen Alltag bedeutet. In der Gegenwart legen viele muslimische Schriftsteller mehr Nachdruck auf die Wahrheit für diese irdische Welt als auf die Wahrheit, die die Welt der Zukunft betrifft. Es wird zwar oft versucht, das muslimische Bild vom Paradies und seinen Freuden zu kritisieren; das ist Zeitverschwendung. Die allgemeine eschatologische Lehre ist im Koran klar und deutlich ausgeprägt und wird als absolute Wahrheit dargeboten. Da gibt es die leibliche Auferstehung nach dem Tode, das Jüngste Gericht mit Belohnung oder Strafe und das ewige Leben.

Der Muslim gibt vielleicht zu, daß vieles von der absoluten Wahrheit im Koran von der Masse mißverstanden und in der Praxis falsch gemacht wird. Aber das ändert, so behauptet er, noch lange nicht die Tatsache, daß all das, was wir von der Wahrheit wissen müssen sowohl bezüglich des heutigen Lebens wie im Hinblick auf das Leben im Jenseits, einzig und allein im Koran zu finden sei.

Was hat nun das Christentum über die absolute Wahrheit zu sagen? Dem Kern nach Folgendes: Jesus Christus ist die Wahrheit (Johannes 14,6), endgültige, absolute Wahrheit. Christen haben Vorstellungen von den letzten Dingen, die sich stark voneinander unterscheiden. Und doch räumt jeder Christ ein, daß dann, wenn wir den Herrn vollkommen verstünden, diese Differenzen verschwinden würden; denn in ihm ist die vollkommene Wahrheit.

Was erklärt das Christentum über unser Leben auf der Erde? Eine der grundlegenden Lehren der römisch-katholischen Kirche ist, daß das christliche Leben und der Glaube an die Grundlage der Autorität der Kirche gebunden sei. Als die Reformatoren diesen römisch-katholischen Anspruch verwarfen und die Autorität der Bibel betonten, meinten sie damit nicht, die Bibel sei eine Richtschnur im Sinne eines Gesetzes oder einer Sammlung einzelner Vorschriften. "Regel und Richtschnur" ist nicht im Sinne von Vorschriften gemeint, sondern im Sinne einer Norm, eines Maßstabes: Daran wird gemessen, von da aus wird geurteilt.

Der Muslim ist des Glaubens, sein Buch sei die unfehlbare Richtschnur (im Sinne von Vorschrift) für Leben und Glauben. Der Christ glaubt, sein Buch sei die unfehlbare Richtschnur (als Norm oder Kriterium) für Glauben und Leben. Dann aber muß man einräumen, daß ein Kampf der Bücher unvermeidlich ist. Nur ein Narr läßt sich in diesen Kampf ohne Vorbereitung ein. Für den Muslim ist der Koran von allumfassender Bedeutung. Für den Christen ist dagegen nicht das Neue Testament das einzigartig Wichtige, sondern Christus.

Der Koran ist ein Buch, das in der Sicht des Islam über der Geschichte steht, es war "näzil", d.h. VOM Himmel herabgesandt, Stück für Stück, und gehört nicht in das Gewebe geschichtlicher Abläufe hinein.

Ganz anders ist es mit Christus: Er steht nicht über oder jenseits der Geschichte. Er kam vom Vater, gewiß; aber er kam in die Welt, in die Geschichte. Christus ist der große Eingriff Gottes in die Geschichte, dem andere machtvolle Taten in der Geschichte vorausgingen. Diese großen Taten Gottes sind die Norm bzw. das Kriterium zur Beurteilung der ganzen Geschichte; wenn Christus entscheidend ist, dann muß auch die Geschichte von lebenswichtiger Bedeutung sein. Wir müssen die geschichtliche Person Jesus Christus kennen lernen, und ebenso müssen wir die vorangegangenen großen Taten Gottes in der Geschichte kennen. Wir müssen lernen, welcher Sinn ihnen zukommt. Deshalb ist die Aufzeichnung und Deutung historischer Vorkommnisse für uns schlechthin notwendig.

Sonst würde Christus zur Mythe, und die Geschichte verlöre ihre Bedeutung. So erklären wir: Das Buch ist Bericht und Deutung. Wir nennen das Buch auch "Wort Gottes", weil er diesen Bericht und diese Deutung benutzt, um Glauben an Christus auf der ganzen Erde und zu allen Zeiten zu schaffen. Es ist deshalb in einem sehr realen Sinn das Wort Gottes, aber doch nicht in dem Sinn, wie der Muslim an das "Wort Gottes" denkt.

Demgegenüber müssen wir verkünden: Christus, Christus allein, ist das Wort Gottes.

Ein Kampf zwischen den Büchern ist unvermeidlich. Trotzdem ist für uns die entscheidende Grundfrage: Welches ist das Wort Gottes? Christus oder der Koran? Worin trifft uns die Enthüllung Gottes: im Koran oder in Christus?