Ist der Islam Gesetz oder Evangelium?

Haben Sie schon erlebt, daß ein bewußter Muslim Ihnen klarzumachen sucht, was das Christentum sei, und das dann aus Bibel und Glaubensbekenntnis beweisen will? Dann wissen Sie, daß man auf solchen Eifer mit Gleichgültigkeit und, wenn er hartnäckig ist, mit Entrüstung reagiert. Aber genauso ist die Reaktion des Muslims, wenn man so unklug ist, ihm zu erzählen, was der Islam sei, und das aus dem Koran oder den Traditionen zu erweisen sucht. Wer aber keine genaue und vollständige Kenntnis der Hauptlehren des Islam hat, dem kann ein Muslim alles mögliche weismachen.

Man muß den Islam gründlich kennenlernen; aber man soll nicht versuchen, den Muslim über seine eigene Religion zu belehren. Genau so, wie die Vorstellungen über das, was Christentum ist, sich unterscheiden, so sind auch die Muslime untereinander keineswegs immer einig. Die Unterschiede der Auffassungen decken sich nicht immer mit den Verschiedenheiten der Sekten und Strömungen im Islam. Deshalb ist es wahrscheinlich, daß ein Muslim Ihre Ausführungen kritisiert, weil sie kein getreues Bild des Islam geben.

Was er meint, ist seine Auffassung vom Islam. Aber wenn man überhaupt etwas über den Islam erfahren will, kann man das Risiko nicht umgehen, daß ein Muslim abfällig sagt: Ach was, das ist alles Unsinn. Dann sollte man weder Ungeduld noch Unmut bezeigen. Man kann sehr wohl von ihm etwas lernen. Zum Mindesten muß man ihm seine Vorstellung belassen und versuchen, mit ihm auf dieser Grundlage zu reden. Ist der Islam als theologisches System ganz auf dem Gesetz aufgebaut, oder gibt es eine andere Möglichkeit, wie jemand sich retten kann, wenn er das Gesetz gebrochen hat? Offenbar muß man zunächst fragen: Was geschieht am Tag des Gerichts?

Die Dringlichkeit in Mohammeds frühesten Predigten wurzelt in seiner Vorstellung vom Jüngsten Tag. Der Glaube an einen "Letzten Tag" des Gerichts bedeutete eine geistige Revolution für die vorislamischen Araber. Denn dazu gehörte auch der Glaube an einen Schöpfer-Gott und an eine Fortdauer des Lebens nach dem Tode. Der Zweck des Gerichts am Jüngsten Tag war: "Jeder Seele soll voll und ganz vergolten werden, was sie getan hat" und "Jede Seele wird wissen, was sie getan hat". (Sure 39,70) Wenigstens am Anfang seiner Laufbahn sah Mohammed dies Bild vom Jüngsten Gericht als einen echten Abrechnungs-Tag (Yaumu' Hisab'). Das im Koran erwähnte "mezan" meint eine Menge Waagschalen, worin die bösen Taten des Menschengeschlechts gewogen werden. Der Ernst dieses "Letzten Tages" läßt keinen Zweifel offen. "An jenem Tag wird der Mensch schreien: wo ist ein Ort, an den ich entfliehen kann? - Doch vergebens! Es wird keinen Zufluchtsort geben" (Sure 75,10-11) Einige der in den "Traditionen" erzählten Geschichten zeigen ebenfalls den Ernst des Letzten Tages der Abrechnung.

Ein Beispiel (zitiert in Hughes' Wörterbuch des Islam, Seite 542): "Der Erste, der am Tag der Auferstehung sein Urteil empfangen wird, wird ein Märtyrer sein. Er wird in die Gegenwart des Allmächtigen gebracht werden, und Gott wird die Wohltaten kundmachen, die ihm in dieser Welt erwiesen wurden. Er wird das einsehen und sich dazu bekennen.

Und Gott wird sagen: 'Was tatest du aus Dankbarkeit dafür?' - Der Mensch wird antworten 'Ich kämpfte für deine Sache, bis ich erschlagen wurde'. Gott wird sagen: 'Du lügst. Du hast gefochten, damit das Volk deinen Mut rühmen sollte.' Dann wird Gott seinen Leuten befehlen, ihn auf seinem Gesicht zur Hölle zu schleifen. Der Zweite wird ein Mann sein, der Kenntnisse erworben und andere gelehrt hat und den Koran liest. Er wird vor Gott gebracht werden, und er wird von den Wohltaten hören, die er empfangen hatte, und dafür Empfänglichkeit und Anerkennung bezeigen. Gott wird zu ihm sagen: 'Was tatest du aus Dankbarkeit dafür?' Er wird antworten: 'Ich erwarb Kenntisse und lehrte andere und las den Koran, um Dir zu gefallen'. Darauf wird Gott antworten: 'Du lügst, denn du studiertest, damit die Leute dich gelehrt nennen, und du lasest den Koran, um dafür gepriesen zu werden'. Dann wird Gott den Befehl geben, auch ihn auf seinem Angesicht kopfüber in die Hölle zu schleppen. Der Dritte ist ein Mensch, dem Gott sehr viel Reichtum gegeben hat. Er wird vor Gott gerufen werden, und auch er wird die Wohltaten vernehmen, die er empfing; er wird sie bestätigen und anerkennen. Gott wird ihn fragen: wodurch hast du diese Wohltaten vergolten?' Er wird antworten: 'Ich ließ meinen Reichtum anderen zugute kommen, um dir zu gefallen.' Doch Gott wird ihm zu verstehen geben: 'Du lügst, du tatest es nur, damit die Menschen deine Wohltätigkeit priesen!' Worauf der Mann auf seinem Gesicht weggeschleppt und in das Feuer gestürzt werden wird.'"

Diese Grundvorstellung von der Art des Jüngsten Gerichts hat sich in der Gesinnung der Muslime derart tief eingewurzelt, daß tausend verschiedene Geschichten schon über die Szenen vor dem Jüngsten Gericht erzählt werden. So werden die guten Menschen zum Tag des jüngsten Gerichts auf Kamelen reitend kommen; die Gleichgültigen werden zu Fuß wandern; die Bösewichte kommen gekrochen. Die Ungöttlichen werden in Zehn Gruppen eingeteilt, die jede eine greuliche Gestalt haben. So werden zum Beispiel Verleumder wie Affen aussehen, die Gierigen wie Schweine usw.. Das Buch, welches die Taten eines Menschen enthält, wird ihm am Tage des Gerichts übergeben. Jede Seele kann dann ihre Taten von den frühesten bis zu den letzten genau erkennen (Sure 82). Wird das Buch einem Mann in seine rechte Hand gegeben, dann darf er sich freuen, denn seine guten Taten wiegen seine bösen auf. Bekommt er das Buch dagegen hinter seinem Rücken, dann geht es ihm schlecht. Man bekommt also zunächst den Eindruck, daß im Islam Gott streng und gerecht richtet, je nach dem Betragen der Menschen auf Erden. Der Islam, so scheint es, ist eine Religion des Gesetzes. Der Mensch bekommt, was ihm moralisch zusteht. Aber diese Schlußfolgerung ist so weit von der Wahrheit entfernt wie der Himmel von der Erde.

Drei Gedanken drängen sich auf und verschieben das Bild: der relative Wert gewisser Taten im Vergleich zu anderen; die Idee eines Fürsprechers; die Gnade Gottes.

Nehmen wir zunächst das erste Argument unter die Lupe: Der Koran sagt in Sure 19,96: "Wahrlich, die, welche geglaubt haben und die Dinge taten, die ehrenhaft sind, denen wird der Barmherzige seine Liebe erweisen." Wenn auch einige rationalistische Muslime meinen, die Strafe in der Hölle sei für niemand ewig, so glaubt die übergroße Masse doch, die Höllenstrafe sei für die Leute "des Buches" nur zeitweilig und werde auch da nur für die angewandt, deren Sünden so groß seien, daß sie unbedingt Strafe verdienen. Ist man ein bekennender Muslim (vielleicht gilt das auch für bekennende Juden oder Christen), dann gehört man zu den "Leuten des Buches"; für diese ist die Gefahr des Höllenfeuers nur eine zeitweilige. Beim Jüngsten Gericht entscheidet letzten Endes nicht das Buch der Taten, nicht die Waagschalen, welche die Taten wiegen, sondern der Umstand, ob man den Glauben bekannt hat oder nicht. Die entscheidende Frage ist für einen Muslim: Bekennt er die "Kalima" ("das Bekenntnis")? Diese Einstellung kommt der Feststellung des Paulus in Römer 10,9 nahe: "Denn so du mit deinem Munde bekennst Jesus, daß er der Herr sei, und glaubst in deinem Herzen, daß ihn Gott von den Toten auferweckt hat, so wirst du gerettet". Aber auch der Feststellung unseres Herrn: "Wer nun mich bekennt vor den Menschen, den will ich auch bekennen vor meinem himmlischen Vater im Himmel" (Mt 10,32).

Zugegeben: Gelehrte des Islam-Gesetzes diskutieren diese Frage und sind wahrscheinlich untereinander nicht einig. Aber ein Gesamtbild der systematischen Theologie des Islam zeigt unzweifelhaft, daß das Wichtigste am Jüngsten Tag Glaube und Bekenntnis ist. Ist erst einmal die Tatsache geklärt, daß dieser oder jener die "Kalima" gesprochen hat, dann ist seine wirkliche Gefahr überwunden. Er mag dann eine Weile ins "Fegefeuer" kommen, doch der bodenlose Abgrund ist nicht seine endgültige Bestimmung. Gott hat natürlich sein "Gesetz" gegeben, um den Menschen in den Himmel zu leiten; sich streng daran zu halten, ist für alle obligatorisch; aber letzten Endes ist das Halten des Gesetzes doch nicht der Angelpunkt, um den sich alles dreht. Deshalb kann der Durchschnitts-Muslim lächeln und sich selber "Gottes Sünder" nennen und sich dabei ganz glücklich fühlen. Er ist ein Sünder lediglich im Sinne eines Gesetzesübertreters, nicht im Sinne eines "Kafirs" oder eines blasphemischen Götzendieners. Das ist ein Unterschied wie der zwischen einem gewöhnlichen Gesetzesübertreter und einem Revolutionär.

Zur Idee eines Fürsprechers

Der Gedanke, der sich ganz natürlich mit der Zugehörigkeit zur Gemeinschaft des Islam verbindet, ist die Vorstellung eines Fürsprechers. Wenn man an Mohammeds einen Gott glaubt und an Mohammeds Prophetenschaft, dann wird man Mitglied seiner geistlichen Familie und hat das Recht zu erwarten, daß er in der nächsten Welt sich um "meine" Interessen kümmert.

Die Lehre von der Fürsprache ist unter den Islam-Gelehrten allerdings nicht allgemein anerkannt. Viele Verse im Koran, zu viele Überlieferungen scheinen dieser Lehre zu widersprechen. So heißt es in Sure 2,48: "Und meidet den Tag, an dem keine Seele für eine andere bürgen kann und von ihr weder Fürsprache noch Lösegeld angenommen wird; und ihnen wird nicht geholfen."

Also sieht es so aus, als ob der Islam eine frohe Botschaft habe, nämlich die erfreuliche Nachricht, daß man durch den Glauben gerettet wird und nicht durch die Werke des Gesetzes. Zahlreiche Muslime, die etwas über ihre eigene Religion und über das Christentum wissen, argumentieren, beide seien im tiefsten Grunde darin einig: Wir würden durch den Glauben gerettet, durch die Mittlerschaft Christi, und sie würden durch den Glauben gerettet, durch die Fürsprache Mohammeds. Eine Christologie, welche die Lehre der Mittlerschaft überbewertet, kann hier in erhebliche Probleme führen. Sie ist zu stark am Gesetz ausgerichtet. jedenfalls liegt das Gewicht des Gedankens auf dem Verdienst Christi. Er vollendet das Werk, welches zu tun Gott ihn sandte. Daher kann er, und nur er, für seine Kirche Fürbitte einlegen, d.h. für seinen Leib - im Gerichtshof des Himmels.

Im Islam ist das ganz anders. Die Fähigkeit der Fürsprache hat im Grunde gar nichts mit Verdiensten des Fürsprechers zu tun. Sie hängt allein vom Willen Gottes ab, wie der Koran in Sure 39,45 erklärt: "Die Fürbitte liegt völlig bei Gott". Ähnlich liest man in Sure 20,108: "Es wird an jenem Tage keine Fürbitte geben außer derjenigen dessen, dem der Barmherzige sie erlauben und dessen Worte er billigen wird".

 

Das bringt uns zum dritten Punkt, der Gnade Gottes.

Am Anfang jeder Sure des Koran (mit einer Ausnahme) findet man, daß Gott der Barmherzige, der Mitleidsvolle genannt wird. Wenn der Barmherzige entscheidet, wem er Gnade erweisen will, dann existiert offenkundig eine Möglichkeit der Fürsprache: aber hier wird der schwache Punkt offenbar. Obwohl Allah der Gnadenreiche und Mitleidvolle heißt, und zwar an zahlreichen Stellen des Korans, und obgleich die Leute die Formel "Im Namen des Barmherzigen und mitleidvollen" so oft wiederholen, z.B. ehe sie ihr Glaubensbekenntnis hersagen, ehe sie essen und bevor sie irgend etwas Neues in Angriff nehmen oder eine Reise antreten, stimmen dennoch fast sämtliche Islam-Theologen darin überein, die menschlichen Qualitäten der Gnade bzw. des Mitleids seien Gott nicht zuzuerkennen, und, was Gnade und Mitgefühl auch sein möchten, sie hängen von Gottes Willen ab, und kein Mensch dürfe behaupten, den zu kennen.

Was ist nun das Endergebnis?

Man mag sein Äußerstes tun, um nur ja alle Islamgebote genau zu befolgen. Man kann aus ganzer Seele glauben und mit dem Mund bekennen, es gebe keinen Gott außer Allah und Mohammed sei sein Prophet. Man mag hoffen, Mohammed werde am Jüngsten Tage des Gerichts für einen Fürsprache einlegen. Man kann sich Gott denken und von ihm reden als von einem Barmherzigen, Gnadenreichen, Mitleidvollen.

Aber in letzter Instanz weiß man nicht, wer und wie Gott ist und ebensowenig, was er für einen selbst oder für andere Menschen tun wird. Der Islam als religiöses System ist weder nur Gesetz noch Evangelium. Im Islam hat sich nämlich Gott nicht durch irgendeinen Bund oder Pakt an irgend jemand gebunden.

Die Juden hatten die Auffassung, Gottes Gesetz sei mit dem Bund verknüpft, so daß der, welcher das Gesetz befolgte, der Errettung gewiß sein dürfe. Die Christen sagen (Apostelgeschichte 16,31): "Glaube an den Herrn Jesus Christus, dann wirst du gerettet". Und in Johannes 3, 16: "Denn so hat Gott die Welt geliebt, daß er seinen eingeborenen Sohn gab". Die Muslime sagen: Man kann von Gott gar nichts wissen, weder von seinen Attributen noch von seinen Eigenschaften noch von seinem Willen. Theologisch gesagt: Gott hat sich gar nicht geoffenbart! Alles im Islam, was man als gute Botschaft ansehen könnte, ist mit Gottes Gnade eng verknüpft. Europäer und Amerikaner würden dies eher Milde nennen. Doch Gottes Gnade oder Milde läßt sich nicht voraussagen. Am Ende bleibt eine enttäuschende, negative Stellungnahme.

Was mich bei meinen ersten Islamstudien öfters erschüttert hat, war die Ungewißheit und Verzagtheit, die in den Äußerungen so vieler großer Muslime auf dem Totenbett zutage trat. Beispielsweise war der erste Kalif Abu Bakr ein großer, unter den Menschen vortrefflichen Charakter und sicherlich ein getreuer Muslim. Von ihm wird erzählt, daß er soviel Angst vor der Zukunft hatte und sich so sehr in Bedrängnis abmühte, daß sein Atem oft wie der einer gebratenen Leber war. Wie zwei Überlieferungen melden, soll er am Tag seines Todes zu Aischa gesagt haben. "Ach, liebe Tochter, dies ist der Tag meiner Befreiung und der Erlangung meines Lohnes: Wenn es Freude ist, wird sie dauern, wenn es Kummer und Leid ist, wird es nie aufhören". (Dieses Zitat und die folgenden Zitate und Beispiele sind zu finden in "The Torch of Guidance to the Mystery of Redemption", ins Englische übersetzt von Sir W. Muir., gedruckt von der Religious Tract Society in London.)

Springen da nicht die beiden "Wenn" ins Auge? Nichts im Islam kann diese "Wenn" aufheben. Nicht einmal die Tatsache, daß Abu Bakr der Titel "Atik" (Freier) zuerkannt wurde, weil Mohammed zu ihm gesagt haben soll' "Du bist frei vom Feuer".

Als der 2. Kalif Omar auf dem Totenbett lag, soll er der Überlieferung zufolge geäußert haben- "... Ich bin nichts anderes als ein Ertrinkender, der noch hofft, mit dem Leben davonzukommen, der aber trotzdem Angst hat, er könne sterben und das Leben verlieren, und der so mit Händen und Füßen um sich schlägt. (Aber verzweifelter als ein Ertrinkender ist der, welcher beim Anblick von Himmel und Hölle in der Vision begraben wird) .... Hätte ich den ganzen Osten und Westen, wie gern würde ich alles aufgeben, um von dieser schrecklichen Furcht, diesem Entsetzen, das über mir hängt, frei zu werden." Als er schließlich mit seinem Antlitz die Erde berührte, rief er laut: "Wehe über Omar, und wehe über Omars Mutter, wenn es dem Herrn nicht gefallen sollte, mir zu verzeihen!"

Liegt Omars Not nicht klar zutage? Sie liegt begründet in diesem "Wenn".

Dieses "Wenn" drückt kein Gefühl der Ungewißheit in Omars Glauben an den einen Gott aus oder in Omars Vertrauen zum Propheten oder daß Omar es an einem rechtschaffenen Leben hätte fehlen lassen. All diese Dinge waren in Ordnung, insoweit ein menschliches Wesen überhaupt das Rechte zu tun vermag. Vielmehr bezieht sich das große "Wenn" auf Gott! "Wenn es Gott nicht gefällt" ihm zu vergeben ... Als Yasid seinen Vater beerdigte, soll er gesagt haben: "Ich will ihn vor dem Allmächtigen rühmen, in dessen Gegenwart er sich jetzt begibt. Wenn Gott ihm verzeiht, dann ist es seine Gnade. Wenn er sich aber an ihm rächt, dann wegen seiner Übertretungen." Wieder diese beiden "Wenn". Wenn Gott verzeiht.. Wenn Gott sich rächt ...

Diese Bemerkung Yasids scheint mir den Islam im Kern zusammenzufassen. Wenn man sich jahrelang in das große und eindrucksvolle System islamischen Denkens eingearbeitet hat, dann ist es zum Verzweifeln, so sehr, daß man es nicht aussprechen kann, wenn man als Grundlage des Ganzen dies Wörtchen "Wenn" findet.

Diese Unsicherheit kommt auch dort an den Tag, wo der Autor das Gegenteil sagen möchte. in Sure 39,53 werden die Diener Allahs ermahnt, nicht zu verzweifeln, weil er ihre Fehler vergibt. Mohammed Ali erläutert:

"Das Erbarmen und die Liebe Allahs, von denen in anderen Religionen viel geredet wird, finden ihren wahren Ausdruck im Islam. Keine Religion gibt den Trost und den Frieden, den wir in diesem Vers finden. Er eröffnet die umfassende Barmherzigkeit Allahs, vor der die Sünden der Menschen ganz unbedeutend werden. Er ist nicht einfach ein Richter, der zwischen zwei Parteien entscheidet, sondern wie ein Herr, der mit seinen Dienern umgeht, wie es ihm gefällt, und deshalb kann er dem Schuldigen vergeben, ohne irgendwem gegenüber ungerecht zu sein".

Man achte auf den Satz: "Wie es ihm gefällt". Also nicht einmal Mohammed Ali wagt zu sagen, daß dieser Herr wirklich vergibt - denn er handelt, wie es ihm gefällt, und man kann eben nicht wissen, was ihm dann gefallen wird. Es hat keinen Sinn, dem Muslim zu sagen, seine Religion sei eine Gesetzesreligion. Gewiß fühlt er sich verpflichtet, die vielen Regeln und Gebote, die Gottes Willen ausdrücken, zu halten. Aber sein Gehorsam entscheidet nicht über sein Bestehen vor Allah. Andererseits ist der Islam auch keine frohe Botschaft; denn was ist daran froh, wenn es bei dem schrecklichen, ungewissen "Wenn" bleibt und niemand wissen kann, wie dies "Wenn" bei ihm ausfällt?

Natürlich gibt es auch im Christentum ein "Wenn". Aber dies "Wenn" wird niemals von Gott ausgesagt. Der ganze Gehalt des Evangeliums ist es, den Menschen zu zeigen, daß Gott seiner Schöpfung treu ist. Er hat sich durch Bundesschluß und Verheißung gebunden; er hat sich offenbart, als er sich mit der Menschheit vereinte; er hat die Last des Falles der Menschen auf sich genommen - das alles, damit wir ihn erkennen und ihm vertrauen können, dem Getreuen, der seiner Schöpfung die Treue hält. Das "Wenn" im Christentum gilt immer vom Menschen: Wenn du glauben willst, wenn du Vertrauen willst, wenn du es annehmen willst - Gott ist treu, du kannst dich darauf verlassen.

Man hat mich oft gefragt, was der Islam sei, wenn er weder Gesetz noch Evangelium sei. Es gibt wohl nur eine Antwort: Der Islam ist die Unterwerfung unter das Unvermeidliche. So viel, mehr nicht. Nicht etwa Unterwerfung unter Gott - als Christ wird man dann "Gott" doch christlich verstehen und an den Vater Jesu Christi denken. Die Vorstellung einer Unterwerfung unter Gott findet sich im Neuen Testament nur einmal (Joh 4,7). Der Christ wird sich selbst im Gebet und in der Hingabe mit Freuden der Hand Gottes des Vaters anvertrauen. Aber wenn der Muslim von Unterwerfung gegenüber Allah spricht, meint er den Allah des Propheten Mohammed, und das bedeutet soviel wie Unterwerfung unter das Unvermeidliche.