Geboren von der Jungfrau Maria
Das Nicänische Glaubensbekenntnis (Konzil zu Nicäa, 325) sagt in klarer und bündiger Weise, dass das menschliche Element in Jesus von seiner Mutter stammte und das göttliche von seinem Vater, also von Gott. Hätte das Glaubensbekenntnis nichts weiter über diese Angelegenheit zu sagen, dann wäre unser Herr als eine Art Zwischenwesen beschrieben, vielleicht eine Art Übermensch, eigentlich ein Mischling, nicht ganz schwarz und nicht ganz weiß.
Aber das Bekenntnis betont, dass sowohl das göttliche wie das menschliche Element in Jesus voll ausgeprägt waren. Alles, was Gott ausmacht, fand sich in Jesus, aber auch alles, was einen Menschen ausmacht, existiert in ihm. Also sind die Ausdrücke "empfangen" und "geboren" ganz unabhängig voneinander und betreffen zwei verschiedene Sachverhalte. Die Kirche glaubt und bekennt, dass drei Akte Gottes in der Inkarnation enthalten waren: Empfängnis, Schöpfung, Vereinigung. Im vorigen Kapitel sprachen wir vom ersten und dritten Akt. Hier geht es um den zweiten und den dritten Akt.
Die Kirche bekennt, dass dieser hundertprozentige Mensch, dieser menschliche Körper, Geist und Seele, nicht das Ergebnis einer menschlichen Zeugung war, sondern das eines unmittelbaren Schöpfungsaktes Gottes. Dieses Bekenntnis irritiert und hat etliche Leute dem Glauben entfremdet. Der Philosoph Celsus machte sich zur Zeit des Kirchenvaters Origines darüber lustig und behauptete, Maria habe sich des Ehebruchs schuldig gemacht. In der Gegenwart meinen rationalistische Islamgelehrte dasselbe. Andere reden von einem Mythos, der aus den orientalischen Mysterienreligionen herstamme.
Wer nun liest, was eine ältere Theologengeneration über diesen Sachverhalt zu sagen wusste, ist über die massive Art erstaunt, mit welcher sie solche Begriffe wie "Substanz", "Wesen", "Ego", "Person", "Attribute" usw. anwenden. Fast möchte man meinen, sie hätten damit wie mit Dingen hantieren können.
Wir verwenden Ausdrücke wie Körper, Seele und Geist; aber was wissen wir wirklich vom Menschen? Wir wissen, dass durch Zeugung ein Wesen ins Leben tritt, das sich bis zum Bewusstsein seiner selbst im Gegenüber zu anderen Menschen entwickelt. Weiterhin wissen wir, dass bestimmte Charakteristiken, Eigenschaften und Qualitäten diesem Bewusstsein zu entsprechen scheinen. Wir wissen aber nicht, weshalb all diese Merkmale und Qualitäten das sind, was sie sind. Einige Denker heben die Vererbung hervor, andere die Umwelt, manche die Funktionen der körperlichen Organe. Da gibt es erhebliche Unterschiede. Wenn wir nun die altmodischen Überzeugungen und Ausdrücke fallen lassen und versuchen, unsern Glauben an unsern Herrn in einer Sprache zum Ausdruck zu bringen, die der Gegenwart angemessener ist, dann können wir etwa Folgendes aussagen: Das einmalige Wesen, das Christus war, wuchs in eine Bewusstheit seiner selbst hinein, nicht nur gegenüber anderen Menschen, sondern auch Gott gegenüber. Durch Bewusstwerdung gegenüber anderen Menschen gewann er das Bewusstsein seiner selbst als Mensch. Durch Bewusstwerdung Gott gegenüber wurde er seiner selbst als Gott inne. Sicherlich ist ein Wesen mit dieser Fähigkeit, in dieses doppelte Bewusstsein hineinzuwachsen, in der Geschichte etwas Einzigartiges. Es folgt daraus, dass diese doppelte Bewusstheit Attribute, Charakteristika und Eigenschaften aufweist, die sowohl der Göttlichkeit wie auch der Menschlichkeit eigen sind. Die Bewusstheit an sich, die Bewusstheit, Mensch gegenüber Menschen und Gott gegenüber Gott zu sein, ist ein und dieselbe Art von Bewusstsein.
Nun denken Sie bitte nicht, diese Feststellung sei eine Bemühung, das Geheimnis zu enthüllen. Im Gegenteil, es ist lediglich ein sprachlicher Versuch, das Mysterium Leuten unserer Denkweise klarer und verständlicher zu machen.
Ob wir es nun in alter oder in neuer Sprache ausdrücken, wir stoßen auf eine harte Tatsache: Das Bewusstsein, ein Mensch zu sein, muss mit sündigen oder "gefallenen" Menschen in Beziehung stehen; denn es gibt ja keinen andern Menschentyp. Deshalb muss das Wesen, das Christus war, in eine Bewusstwerdung des sündigen Menschen im Vergleich mit sich selber hineingewachsen sein. verfolgen wir diesen Gedanken bis an seinen logischen Schluss, dann muss Christus, um sich als Mensch unter Menschen zu erkennen, sich als sündiger Mensch gegenüber den Mitmenschen erkannt haben. Paulus dachte wohl daran, als er sagte: "Christus, der von keiner Sünde wusste, wurde für uns zu Sünde gemacht" (2. Korinther 5,21).
Dieser Gedanke wurde, wie ich vermute, durch das von Jesaja entworfene Bild in Jesaja 53 angeregt, das Bild von der restlosen Identifizierung des leidenden Gottesknechts mit denen, für die er litt. Aber wie kann ein Wesen, das in ein Bewusstsein seiner Beziehung mit den sündigen Menschen hineinwächst, zur selben Zeit in das Bewusstwerden seiner selbst gegenüber dem heiligen Gott hineinwachsen? Das ist das Rätsel, das uns in Christus vorliegt, ganz gleich, welcher Terminologie wir uns dabei bedienen. Theologen schlussfolgern oft von der jungfräulichen Geburt her auf unsern Herrn. Er hatte eine unbefleckte Empfängnis, sagen sie, weil seine Mutter eine Jungfrau war. Dann hat man darauf hingewiesen, dass die Erbsünde nicht nur durch männliche Wesen Übertragen wird. Römisch-katholische Theologen entwickeln zur Ehre der Mutter Gottes die Vorstellung der unbefleckten Empfängnis der Jungfrau Maria. Aber das schiebt die Lösung des Problems nur einen Schritt zurück. Oder man sagt, im Schoße der Maria habe Christus kein Partikelchen vom Körper der Maria empfangen, "weder Fleisch noch Blut noch die sündige Menschennatur". Er sei gänzlich eine unmittelbare, neue Schöpfung himmlischen Ursprungs gewesen, lediglich durch den jungfräulichen Schoß eingehüllt. Dann erhob sich Widerspruch: "Dann gehört er nicht zu uns! Das Blut, das er am Kreuz vergoss, der Tod, den er starb, ist nicht unser! Und auch seine Auferstehung ist dann nicht unser. Wir sind dann ohne Erlöser und verloren!"
Darauf antwortete Calvin (Institutional Nr. 11-13,4) "Denn wir stellen Christus nicht als völlig makellos dar, weil er von einer Frau geboren wurde, die keine Verbindung mit irgendeinem Mann besaß, sondern weil er vom Heiligen Geist geheiligt war, so dass seine Entstehung rein und heilig vor Adams Fall war."
Calvin meint also, die Sündlosigkeit unseres Herrn hat keine Beziehung zur Jungfräulichkeit seiner Mutter. Die Heiligkeit, von der er redet, wäre ebenso gut bei einer Zeugung wie bei einer unmittelbaren Erschaffung möglich.
Die jungfräuliche Geburt wurde oft falsch ausgelegt. Die Geschichte dieser wundersamen Geburt wurde mit der Prophezeiung in Jesaja 7 verbunden. Dort ist von einem "Zeichen" die Rede. Der Prophet sagt Ahas, er möge um ein Zeichen bitten. Ahas weist das fromm von sich. Es wird ihm dann erklärt, Gott selbst werde ihm ein Zeichen geben. was ist denn die Eigenart eines "Zeichens"? Es weist auf etwas anderes hin. Sonst hat es keinen speziellen Wert.
Zum Beispiel ein Zeichen am Wege kann besagen: 15 km bis Neustadt. Wenn man aber dahin kommt, sieht man, dass eine Armee einst Neustadt dem Erdboden gleichgemacht hat. Das Zeichen hat dann keine Bedeutung mehr, weil das, worauf es hinwies, nicht mehr existiert. Oder: Ein Auto fährt in einen Zug, weil der Lenker das Warnzeichen an der Straße verkehrt auffasste. Dann war dies Zeichen für ihn ohne Wert. Oder: Nehmen wir an, jemand ehrt voll Eifer eine Flagge, schmäht aber das Land, dessen Wahrzeichen die Flagge ist. Welchen Wert hat dann die Flagge (das Zeichen) in Wirklichkeit für ihn? Doch zurück zu Jesaja 7. Das dem Ahas verheißene Zeichen war die Geburt eines besonderen Kindes, geboren von einer Jungfrau. Es ist wahr: Das Wort "Jungfrau" lässt sich auch mit "junge Frau" übersetzen, aber das gilt seit alters als fehlerhafte Exegese; die Erwähnung einer Frau als Mutter wäre überflüssig. Von der frühesten Zeit ihrer Geschichte an hat die Kirche deshalb die jungfräuliche Geburt Christi als das von Jesaja verheißene Zeichen aufgefasst. Manche Leute sind begeistert, dass diese Bibelstelle ein Beweis der jungfräulichen Geburt sei. Aber dass diese Prophezeiung in Erfüllung ging, kann niemand beweisen; und es ist viel wichtiger zu begreifen, was dies besondere Zeichen bedeutete.
In den Evangelien ist in ganz verschiedenem Sinn von Zeichen die Rede. Wenn ein Zeichen als Beweis einer Wahrheit erbeten wird, dann liegt dem Unglaube zugrunde. Andererseits gilt: Wenn Gläubigen ein Zeichen gegeben wird, dann besagt es etwas, was ihnen helfen soll, die Wahrheit des Geglaubten zu erfassen.
Das gilt nun auch für Muslime, die an Jesu jungfräuliche Geburt glauben. Im Koran wird Jesus Ibn Maryam genannt, d.h. Sohn der Maria. Sonst wird bei Namen immer der des Vaters mit erwähnt. Mit Ausnahme einiger rationalistischer Sekten erklären sich sämtliche Muslime auf der ganzen Welt für die jungfräuliche Geburt Jesu. Aber: Was bedeutet das für sie? Jedenfalls nicht Menschwerdung, Göttlichkeit, Sohnschaft, Sündlosigkeit oder eine andere christliche Lehre. Vielmehr sagt man: Gott offenbart seine Allmacht in seinen Schöpfungsakten. So hat er gezeigt, dass er den Menschen auf vier verschiedene Arten erschaffen kann: ohne Vater und Mutter (Adam); ohne Mutter (Eva); ohne Vater (Jesus) und mit Vater und Mutter: alle übrigen Menschen. Hier wird das Zeichen zum Beweis für etwas ganz anderes gemacht!
Das Zeichen selber hat keine besondere Bedeutung! Wir wissen von keiner göttlichen Notwendigkeit für einen solchen speziellen schöpferischen Akt. Wenn Gott wollte, hätte er den ewigen Logos mit einer Geschöpflichkeit vereinigen können, die ihren Ursprung in menschlicher Zeugung hatte.
Weiterhin gilt: Das Zeichen kann nur von Glaubenden verstanden werden. Dies ist für unseren Kontakt mit Muslimen von großer Wichtigkeit. Hier einen Kontaktpunkt zu suchen, führt zu erheblicher Verwirrung. Wir kommen nun zu der entscheidenden Frage: Wofür ist die jungfräuliche Geburt ein Zeichen? Wir haben gezeigt, dass die jungfräuliche Geburt nicht als Zeichen angesehen werden darf, welches die volle Gottheit in Christus erweist, und dass sie nicht mit seiner Sündlosigkeit zusammenhängt. Was die jungfräuliche Geburt in Wirklichkeit anzeigt, ist die völlige Geschöpflichkeit unseres Herrn. Sie macht diese Geschöpflichkeit zu etwas Einzigartigem. Man könnte hier an eine Entsprechung zur Erschaffung von Adam und Eva denken. Gott machte einen Erdenkloß und schuf daraus den ersten Menschen. Er hätte doch auch sagen können: Es werde ein Mensch! Aber der Erdenkloß ist das Zeichen der Geschöpflichkeit. Ähnlich verhielt es sich im Falle Evas. Sie wurde erschaffen, aber nicht unabhängig vom Mann. Die Geschichte von Adams Rippe weist darauf hin, dass die Erschaffung der Frau mit der des Mannes eng verknüpft ist.
Leute, welche die jungfräuliche Geburt als großes Wunder oder sie als Zeichen der Göttlichkeit oder Sündlosigkeit ansehen, sind leicht etwas enttäuscht, wenn sie hören, dass hier die Geschöpflichkeit betont wird. Warum sollte Gott die Geschöpflichkeit unseres Herrn in solch dramatischer Weise betonen?
Die Antwort ist eine doppelte: Zuerst ist die Geschöpflichkeit des ewigen Logos von Gott in sich selbst so wunderbar und ehrfurchtheischend, dass der Mensch schon dahin tendiert, davor zurückzuweichen oder diesen Sachverhalt zu umgehen. Nicht nur, dass die Kirchengeschichte dies zweifelsfrei beweist; wo der Mensch den Versuch macht, sich Gott nahe zu bringen, wurde entweder der metaphysische Aspekt seiner Allgegenwart hervorgehoben oder von der Verwandlung Gottes in einen Menschen erzählt. Es ist leicht zu sagen, Allah sei dir näher als deine Halsschlagader, und es ist auch leicht zu erklären: "Die Götter sind zu uns in Menschengestalt herabgestiegen" (Apg 14,11). Aber die Menschheit ist erschrocken vor Gottes Weg der Menschwerdung. Wenn dies große Mysterium Wahrheit ist und nicht Mythos oder Illusion, dann muss die Menschlichkeit reine Geschöpflichkeit, volle Menschlichkeit bedeuten. In welcher besseren Weise hätte Gott die Tatsache seiner vollständigen Menschlichkeit betonen können als dadurch, dass er die volle Geschöpflichkeit als einmalig herausstellte? Unsere einzige Antwort kann nur lauten: Gott hat alles gut gemacht!
Zum anderen ist die jungfräuliche Geburt als Zeichen der Geschöpflichkeit Christi auch das Zeichen eines freien und souveränen Aktes Gottes. Durch die jungfräuliche Geburt wird die Tatsache unterstrichen, dass die Inkarnation ein freier, souveräner Akt Gottes war. An diesem Punkt kann von Notwendigkeit gar nicht geredet werden. Gottes souveräner Entschluss und freier Akt, d.h. seine unbegrenzte und keiner Hilfe bedürftige Gnade ist Grund und Quelle aller Versöhnung, aller Errettung und Erlösung. Jeglicher Versuch - es sind viele gemacht worden - die Inkarnation zu einer Notwendigkeit zu machen, etwa aufgrund der Natur Gottes, muss mit einer Umdeutung des Zeichens der jungfräulichen Geburt anfangen. Gott tat, was er tat, ganz einfach, weil das so seinem eigenen heiligen Willen entsprach.
Der Mensch hat hier überhaupt keine Möglichkeiten, weder in sich selbst noch von außen her. Er hat nicht einmal die Möglichkeit der Kooperation. Die Mutter unseres Herrn wünschte mitzuarbeiten, sah aber nicht, wie sie das konnte, da sie ja unverheiratet war. Es wurde ihr gesagt, dass ihre Mitwirkung nicht möglich war; denn Gott selbst würde unmittelbar das schaffen, was nötig war. Sie konnte nur sagen: So sei es. Davon redet auch Johannes, wenn er sagt: Die, welche an ihn glauben, "wurden geboren nicht aus Blut oder aus dem Willen des Fleisches noch aus dem Willen eines Mannes, sondern von Gott" (Johannes 1,13).
Fassen wir zusammen: Im Inkarnationsakt, in welchem der ungeschaffene ewige Logos mit der erschaffenen Menschlichkeit die Vereinigung eingeht, hob Gott die reine Geschöpflichkeit jener Menschlichkeit hell hervor durch eine einmalige schöpferische Tat, weshalb der Mensch Jesus von einer Jungfrau geboren wurde. So wird die jungfräuliche Geburt für Gläubige zum Zeichen der unbestreitbaren Wahrheit der vollkommenen Menschlichkeit Jesu und ebenso zum Zeichen von Gottes souveräner Gnade bei der Erlösung der Menschheit.
Wo man die Lehre von der Erbsünde verwirft und Vertrauen in des Menschen Fähigkeit, sich selbst zu erlösen, findet, wird man fast unweigerlich zu gleicher Zeit feststellen, dass das Zeichen der wundersamen Geburt unseres Herrn ignoriert, abgelehnt oder missverstanden wird.
Sie werden wohl erkennen, dass die vorliegende Vorlesung sich an Missionare wendet und wenig oder nichts Positives über unsere Fühlungnahmen mit Muslimen zu sagen weiß. Aber ich habe Ihnen gezeigt, dass die jungfräuliche Geburt ein Zeichen ist und als Zeichen nur dann Bedeutung hat, wenn der Glaube an die Inkarnation schon vorhanden ist. Unter dieser Voraussetzung sagt das Zeichen Ihnen sehr vieles bezüglich des Umgangs mit Muslimen. Damit ist gesagt: Der Kontakt mit einem Muslim anhand irgend eines Dialogs über die jungfräuliche Geburt ist nicht nur nutzlos, sondern schädlich und führt zu Missverständnissen.