Sunna - Was ist das?
Die Sunna ist die orthodoxe Grundlage der islamischen Sozialethik. Ein Zitat aus einer Flugschrift (in englischer Sprache) über "Die Bedeutung der Hadith", veröffentlicht in Pakistan, macht das deutlich. "Die Sunna des Propheten ist also nach dem Koran die Hauptquelle der islamischen Sozialethik. In der Tat müssen wir die Sunna als die allein gültige Erklärung der Lehren des Koran und als das einzige Mittel ansehen, Streit über die Auslegung und Anwendung in der Praxis zu vermeiden. Zahlreiche Verse des Heiligen Koran besitzen einen allegorischen oder metaphorischen Sinn. Man könnte sie auf verschiedene Weise verstehen, wenn wir nicht ein sicheres Auslegungssystem hätten. Andererseits gibt es viele Dinge von praktischer Bedeutung, die im Koran nicht ausdrücklich behandelt werden. Der im Heiligen Buch vorherrschende Geist Ist ganz gewiß überall ein einheitlicher; aber daraus das praktische Verhalten, das wir anzunehmen haben, abzuleiten, ist nicht in jedem Fall einfach. Solange wir des Glaubens sind, daß dies Buch das Wort Gottes darstellt, vollkommen in seiner Gestalt und seinem Ziel, lautet die einzig mögliche logische Schlußfolgerung, daß es niemals ohne die persönliche Anleitung durch den heiligen Propheten benutzt werden sollte, wie sie im System seiner Sunna vorliegt. Unsere Vernunft lehrt uns: Es gibt keinen besseren Schiedsrichter für die Auslegung der Lehren des Koran als ihn, durch den diese Lehren der Menschheit erst erhellt wurden."
Soweit ich weiß, ist der Weg der Muslime, ihre Sozialethik durch eine ausführliche Traditionstheorie zu begründen, in der Religionsgeschichte einmalig.
Als ich unlängst mit einem Sunniten sprach, traf er die verblüffende Feststellung: "Die Traditionen sind wichtiger als der Koran". Ich bestritt das; da fuhr er fort: "Die tausend Einzelheiten unseres täglichen Daseins werden von der Sunna geregelt, nicht von den wenigen unmittelbaren Offenbarungen über die rechte Lebensweise, die man im Koran findet. Wenn wir zu einem Mullah gehen und ihn wegen eines Problems um Rat fragen, dann zitiert er nur salten den Koran, sondern er antwortet gewöhnlich mit einigen Überlieferungen. Und das ist ebenso autoritativ, als wäre es der Koran solbst." Kein Zweifel: so ist es in der überwiegenden Mehrzahl aller Fälle.
Wenn Sie nun den Mann auf der Straße fragen, was die Sunna ist, dann antwortet er Ihnen: Das ist die Nachahmung des Propheten. Man schneidet seinen Bart so, wie Mohammed seinen Bart trug. Man säubert und schneidet seine Fingernägel so, wie Mohammed es machte. Die Söhne werden beschnitten, weil Mohammed beschnitten war. Man verheiratet seine Töchter von einem Mindestalter ab, weil die jüngste Tochter Mohammeds bei ihrer Heirat dies Alter hatte.
Natürlich konnte nicht jedes einzelne Detail in Mohammeds Dasein allgemein bekannt sein. Auch war Mohammed nicht in den zahllosen Situationen aktiv, die eine Richtschnur fordern. Deshalb sagen die Autoritäten des Islam: Nicht nur das, was Mohammed selbst tat, sondern das, was er
in seiner Gegenwart oder mit seinem Wissen zu tun und zu sagen erlaubte, ohne daß er Widerspruch dagegen erhob, das mache die Sunna aus. Die grundlegende Vorstellung der Sunna ist aber zweifellos die Nachahmung des Propheten.
Warum möchte man den Propheten nachahmen? Der Islam will die natürliche Religion sein, die den natürlichen Bedürfnissen des Menschen gerecht wird. Welches Bedürfnis hat jemand, einen anderen nachzuahmen? Es ist ziemlich viel Unsicherheit darin, man selbst zu sein. Nur Menschen, die ihrer selbst sehr sicher sind, nehmen das Risiko auf sich und halten es aus, allein zu stehen. Die große Mehrheit der Menschen hält sich an Vorbilder.
Aber die Nachahmung des Propheten hat auch einen tieferen religiösen Aspekt. Mohammed ist Gottes Prophet und Gottes Freund, also muß ur Gottes Gefallen gefunden haben. Die möglichst treue Nachahmung Mohammeds wird den Gläubigen vor Allahs Angesicht angenehm machen. Die Nachahmung des Propheten verleiht nicht nur Sicherheit unter den Menschen, sondern sie macht auch in der Gegenwart Gottes sicher und vertreibt die tiefe Furcht, am Jüngsten Tag einsam, ja verloren zu sein. Der Drang zur Nachahmung ist so alt wie der Islam selbst. Die oben erwähnte Flugschrift führt aus: "Des Meisters Gefährten leiteten ihre Glaubensüberzeugungen und Verhaltensregeln ebensosehr von des Meisters Vorbild wie aus dem Koran ab.« Und an anderer Stelle heißt es: "Mit den Worten der Aischa, der Mutter des Gläubigen, sein Charakter war der Charakter des Koran, das soll heißen: Die Lehre des Koran wurde in seiner Persönlichkeit in eine Lebenswirklichkeit verwandelt. Es ist eine geschichtliche Tatsache, daß viele der bedeutendsten Gefährten Mohammeds zum Glauben an das Heilige Buch - nein, an Gott - dadurch gelangten, daß sie zuerst einmal an ihren Propheten glaubten." Die Gefährten nahmen es mit der Sunna sehr ernst. So soll Omar gesagt haben, er von sich aus hätte nie den schwarzen Stein in der Mauer der Kaaba zu küssen gewagt, wenn er nicht vorher gesehen hätte, wie Mohammed das tat. Ein anderer wollte keine Wassermelonen essen, weil er nicht wußte, ob Mohammed sie mit oder ohne Schale gegessen habe. Solche Geschichten gibt es viele. Der Islam war von Anfang an eine "Nachahraungsreligion". Überall da, wo eine urtümliche Gemeinschaft nach ungeschriebenen Stammesgesetzen lebt, wird man finden, daß diese Gesetze ebenso umfassend wie streng sind. Sie werden nach ihrem Geist ausgelegt, da sie über keinen "Buchstaben" verfügen. Es gibt dann weder Gerichtshöfe noch Juristen und Advokaten. Es gibt keinen Spielraum zur Argumentation. Entweder: "Das tut man nicht" oder "Das tut man" Eine der ersten Forderungen Mohammeds an seine neuen Anhänger war die Loyalität zu ihm über, ja auch gegen die Treue zur Sippe. Daraus ergab sich, daß die altüberkommenen, ungeschriebenen Stammesgesetze nicht länger gültig waren. Doch das bedeutete nicht und konnte gar nicht bedeuten, daß die neuen Gläubigen einen Wandel der Mentalität durchliefen. Wenn sie sich Mohammed und seiner Offenbarung zuwandten, brauchten sie einen Ersatz für die alten, ungeschriebenen Stammesgesetze. Für sie war es ganz natürlich, sich an Leben und Handeln Mohammeds zu orientieren. Was ar nicht tat, das tat man eben nicht. Wie er etwas machte, so war es richtig.
Dur Islam war von Anfang an Theokratie - nicht nur Hoffnung oder Glaube, sondern Leben unter Gottes Regierung. Mit anderen Worten: Mohammeds Prophetenamt war eine Berufung für alle 24 Stunden des Tages. Er war Prophet nicht nur, wenn er eine neue Offenbarung verkündigte, sondurn auch, wenn er einen Witz erzählte oder ein Bad nahm. Seine Unfehlbarkeit war nicht wie die des Papstes auf bestimmte Lehren "ex cathedra" begrenzt. Ob er aß oder ob er trank, was er auch tat: all das war sozusagen ein Hnndeln "ex cathedra".
Dur Koran kam nur Stück für Stück herab; er enthielt nicht viele direkte praktische Gemetze: er war nur ein Ausschnitt eines viel größeren Ganzen; dies "Ganze" war in Mohammeds Leben sichtbar - 24 Stunden am Tag.
Die Stärke eines ungeschriebenen Gesetzes liegt darin, daß es sich in den Herzen und Sitten und Bräuchen einer Gemeinschaft herausgebildet hat. Private oder persönliche Initiative wird dann mit Stirnrunzeln zur Kenntnis genommen. Sie gefährdet die Solidarität der Gemeinachaft. Als zum Beispiel Jinna, der Gründer l'akistans, sich nach oben arbeitete, wollten die streng orthodoxen Bergstämme an der Nordwestgrenze mit ihm nichts zu tun haben, weil er glattrasiert war. "Wenn einer nicht einmal in einer so untergeordneten Sache dem Propheten folgt", erklärten sie, "wie können wir ihm dann trauen,' daß er in den wichtigen Angelegenheiten des Daseins dem Islam treu ist?"
Lehrte Mohammed selber schon die Sunna? Lassen sich die Spuren dieser Lehre schon im Leben des Propheten selber finden? Es gibt mehrere Umstände, welche direkt oder indirekt beweisen: Mohammed stimmte dieser Art islamischer Frömmigkeit zu; ja, er ermutigte sie sogar. Er wies darauf hin, daß er "nur ein Mensch" sei. Er wünschte, die Menschen sollten einsehen, daß er der Träger der Offenbarung war und dennoch von derselben wesenhaften Menschlichkeit wie alle anderen Menschen. Wäre Mohammed ein Halbgott, Engel oder Übermensch gewesen, wäre die Sunna sowohl in der Theorie wie in der Praxis ein Ding der Unmöglichkeit. Deshalb ist ein zentraler Punkt in der Sunna die wesenhafte Menschlichkeit des Propheten.
Wenn der Koran sagt: ("Die Verbündeten", Vers 21): "Wahrlich, im Gesandten Allahs habt ihr das treffliche Vorbild", dann ist das der Haken, woran die Muslime ihre Lehre aufhängen können. Der Koran erklärt: ("Das Licht", Vers 64) "Gehorche Allah und gehorche dem Gesandten!" Gehorsam gegen Allah ist es, den Gesetzen und Vorschriften des Koran als seiner Offenbarung zu folgen. Gehorsam gegenüber dem Propheten heißt, daß selbst dann, wenn keinerlei Offenbarung Über ein Thema gegeben wurde, der Prophet als der Gesandte Allahs das Recht hat, Gehorsam zu fordern. Dies ist in der Tat eine starke Grundlage für die Lehre von der Sunna. Eine Überlieferung läßt Mohammed sagen, wer seine Lehre verfälsche, werde in der Hölle Feuerqualen leiden. Die Traditionen machen entschieden den Eindruck,.Mohammed habe gewußt, daß er nachgeahmt wurde, und daß er dieses nicht nur zuließ, sondern auch unterstützte. Eine zweite Frage soll uns beschäftigen: Woher weiß der Muslim, was er nachahmen soll? Jede Anordnung im Koran fordert Gehorsam, nicht Nachahmung. Wenn der Koran klar und deutlich erklärte: Ihr müßt fünfmal jeden Tag beten (was er nicht sagt!), dann wäre das ein Befehl, der Gehorsam fordert, ganz gleich, ob Mohammed das selber tat oder nicht. Selbst wenn Mohammed fünfmal an jedem Tag betete, würde dieses sein Handeln nicht zur Nachahmung herausfordern, weil er nur wie seine Anhänger einer ausdrücklichen Weisung Allahs Gehorsam schenkte.
Mit anderen Worten: Die Sunna hat ihre Quelle außerhalb des Koran. Im Westen stellt man sich unter Tradition eine feste Gewohnheit vor. Gerade das aber ist nicht das, was gemeint ist, wenn man das Wort "Hadith" mit Tradition übersetzt. Hadith ist eine Geschichte, die Mohammed betrifft und deren Überlieferung zu Mohummed selber zurückgeführt werden kann. So wurde Mohammed einmal gefragt, ob bestimmte Verse dos Koran als Amulett benutzt werden dürften, um Schutz gegen die Launen der Dämonen zu gewähren. Mohammed erteilte seine Zustimmung. A., der dies hörte oder der Fragensteller war, gab diesen Bescheid an B. weiter, B., an C., C. an D. und so weiter, durch Jahrhunderte. All das ging mündlich vor sich; erst Generationen später wurden diese Überlieferungen schriftlich fixiert.
In der Wissenschaft der Hadith gibt es nur zwei Grundsätze: 1) Sie dürfen dem Koran nicht widersprechen. 2) Der Beweis für die Zuverlässigkeit der Hadith muß möglichst lückenlos sein. Es genügt nicht, eine Geuchichte auf Mohammed zurückzufühen; nein, jeder Mensch in der langen Kette der Überlieferung muß im Rufe stehen, ein nüchterner, gutartiger und Gott zugewandter Mensch in seiner Epoche gewesen zu sein. Das war eine riesen Forschungsarbeit, als man die Zuverlässigkeit schlechthin jeder erzählten Geschichte zu überprüfen anfing. Hunderte, die forschten, setzten ihr ganzes Leben daran, und sehr viele opferten auch ihr Vermögen, um die Spuren dieser Erzählungen zu verfolgen.
"Von sämtlichen Hadith-Sammlungen hat keine jemals die außerordentliche Hochachtung zu erreichen vermocht, wie das Werk von Al-Buchari sie schlechthin in der gesamten Islamwelt errungen hat. Keiner der Gelehrten vor oder nach ihm hat zu irgend einer Zeit jenes Maß von kritischer Einsicht in das Hadith-Problem erreichen können, welches den Imam Buchari zur höchsten Autorität macht, wo und wann auch immer über das Hadith-Problem diskutiert wird. Sein Werk ist nach übereinstimmender Lehre sämtlicher muslimischer Gelehrter das vollkommenste Buch gleich nach dem Koran. Von seiner Kindheit bis zu seinem Tod war er von einem einzigen Ziel beseelt: die authentischen Berichte der Aussprüchen und Handlungen des heiligen Propheten zu sammeln, sie aufgrund der umfassenden Fähigkeiten seines großen Intellekts zu sieben und der Nachwelt einen Bericht vom Loben und den Lehren des größten Menschen zu hinterlassen, der so fehlerlos wie nur möglich ausfallen sollte." ("The Importance of Hadith" von Mohammed Asad). Al-Buchari soll 1080 Überlieferer von Erzählungen in etwa zwanzig Zentren im Nahen Osten interviewt haben.
Eins gibt zu denken. Die Muslime betonen die geschichtliche Zuverlässigkeit der aufs Vollkommenste beglaubigten Hadith. Aber sie berichten auch, es seien mindestens 600.000 dieser Erzählungen im Umlauf gewesen, als Al-Buchari sich an die Arbeit machte. Bis zum Ende seines Lebens hatte er 592.700 als nicht korrekt oder "gesund" (sahih) ausgeschieden. Von den 7300 verbleibenden waren mehr als die Hälfte Doubletten. Nur 3000 blieben übrig. Alle übrigen sind als zweit- oder drittklassig oder schlechthin unglaubwürdig eingestuft. Und die Garantie für die Glaubwürdigkeit der gebilligten 3000 beruht offenbar nur auf dem Urteil eines einzigen Menschen. Das ist die Ursache, aus der heraus Nicht-Muslime und auch nicht wenige Muslime die Traditionen in Bausch und Bogen ablehnen. Hier geht es mir nicht um ein Urteil über ihre Zuverlässigkeit, ich wollte nur zeigen, wohin diese Anschauung führt.
Das Ziel aber dieser Forschung war es, eine solide Grundlage für die Sunna zu legen. Dazu wurden auch die unbedeutendsten und intimsten Geschichten aus dem Privatleben aufgezeichnet. Bei einigen Beispielen wundert man sich, weshalb sie überhaupt der Nachwelt überliefert wurden. ("Selections from Muhammedan Traditions", von Goldsack). Von Abu Darr wird berichtet-. "Der Gesandte Gottes sagte: Wenn jemand von euch verdrießlich wird, weil er stehen muß, laßt ihn sich hinsetzen. Wenn der Ärger dann vorbei ist, ist es gut. Andernfalls laßt ihn auf seiner Seite liegen." In manchen englischen Ausgaben findet man wiederholt die Worte: "nicht geeignet für den Druck". Einheimische Ausgaben zeigen, daß solche Stellen mit Hygiene und mit sexuellen Beziehungen zu tun haben. Millionen Muslime tun in der Gegenwart täglich Dinge, welche "Sunna" sind, die für sie jedoch bloße Gewohnheit geworden sind, über die man kaum jemals nachdenkt. Was aber geschieht, wenn die Umwelt sich ändert, z. B. wenn die Kultur von außen beeinflußt wird oder es zur Einführung neuer technischer Entwicklungen kommt? Einige Beispiele machen die ProbIematik deutlich. Der Fastenmonat Ramadan endet, sobald ein verläßlicher Zeuge den Neumond gesehen hat. In Karatschi mieteten die Mullahs an einem Abend mit dichter Wolkendecke ein Flugzeug, als sie aus astronomischen Berechnnungen erfuhren, daß der Neumond sichtbar soin mußte. Das Flugzeug flog bis über die Wolkon, man sah den Mond, kam wieder herunter, die Fluggäste bezeugten unter Eid, den Neumond gesehen zu haben. Helle Freude in Karatschi aber an anderen Orten, wo man einen Tag länger warten mußte, weil das wolkige Wetter den Mond verbarg, gab es heftige Aufregung. Diese anderen meinten, die Mullahs aus Karatschi hätten sie betrogen; denn es gebe keine Überlieferung, die die Suche nach dem Neumond über den Wolken erlaube.
Vor einigen Jahren war in Afrika der Himmel eines Tages über der einen Stadt voller Wolken, über einer anderen aber klar und hell. Die Bewohner der bewölkten Stadt wurden per Telefon angerufen, der und der in der wolkenlosen Stadt habe den Mond gesehen; also könnte man in der wolkenbedeckten Stadt am folgenden Tag mit den Festlichkeiten getrost anfangen, auch wenn man den Neumond dort noch nicht gesichtet habe. Der Vorschlag, die Aussage eines Zeugen durch den Fernsprecher gelten zu lassen, schlug im Lager der Orthodoxen wie eine Bombe ein. Der entstehende Streit der Meinungen wuchs sich zu solchen Ausmaßen aus, daß man den Beschluß faßte, eine Abordnung gelehrter Leute aus beiden Städten nach Bombay zu senden, um den Urteilsspruch der dortigen Gelehrten zu vernehmen, die als noch klüger und weiser galten. Das Urteil lautete, eine Zeugenaussage per Telefon sei nicht zulässig.
Als der erste Lautsprecher in einer Moschee in Delhi installiert wurde, kam es zu einem kleinen Aufruhr. Während ich an dieser Lektion schreibe, bin ich genötigt, die Geräusche aus einem mächtigen Lautsprecher der Moschee eines nahegelegenen Dorfes zu hören. Der Lautsprecher begann um 21 Uhr zu ertönen und wird bis nach Mitternacht zu hören sein. Wenn man auch weithin den Widerstand gegen diese Einrichtung inzwischen aufgegeben hat, ist doch immer noch ein unbehagliches Gefühl lebendig, eben weil es ein Neuerung ist.
Vor einigen Jahren fuhr ich einmal in einem öffentlichen Omnibus, mitten im Sommer, während der Fastenzeit. Der Fahrer wurde vor Hitze und Durst ohnmächtig. Die Muslime im Bus fingen an zu schimpfen, zu streiten und zu fluchen. Einige sagten, der Fahrer wäre ein echter Heiliger, der trotz der großen Mühsal das Fasten eingehalten habe. Andere dagegen machten geltend, sein Fasten sei verbrecherisch, weil er nämlich allzu leicht durch sein Ohnmächtigwerden uns allen den Tod hätte bringen können.
Für den Bereich der Wirtschaft nur ein Beispiel: Jedes muslimische Land hat heute seine Staatsbank. Ein Hadith sagt aber. "Es wird von Jabir berichtet, daß er sagte: 'Der Gesandte Gottes verfluchte jeden, der Zinsen nimmt, und jeden, der Zinsen gibt, und den, der darüber eine Urkunde ausstellt, und jeden Zeugen. Und er sagte: Die sind alle gleich!" Obwohl die Masse inzwischen das Bankwesen akzeptiert hat, mißbilligt sie entschieden den einzelnen Bankier, der Geld für Zinsen ausleiht.
Was für Auswirkungen auf die Theologie hat es, wenn das Verhalten einer Gruppe sich infolge von Druck aus der Außenwelt gewandelt hat? Die Traditionen besagen: Wenn jemand ein Ei oder ein Seil stiehlt, soll man ihm die Hand abhauen. Im Einklang mit der humanen Rechtsauffassung des 20. Jh. setzt kein einziges muslimisches Land diese Überlieferung in Kraft. Der Traditionalist versucht es folgendermaßen: "Mohammed meinte das als extreme, endgültige Strafe für einen unverbesserlichen Dieb, sicherlich aber nicht für den ersten Diebstahl". Der Muslim, der über die Sunna auf den Koran zurückgreifen möchte, sagt: "Wenn auch eine derart strenge Strafe für die wilden Wüstenstämme Arabiens nötig war, so würde sie in der Gegenwart den Geist des Koran verletzen, der auf Fortschritt gerichtet ist". Ich meine nicht, daß der Islam einem auf Felsen auflaufenden Schiff gleicht, wohl aber, daß ein Kampf im Islam auf Tod und Leben seine Wurzel Im Verhalten der Muslime selber hat, insofern sie für oder gegen eine Religion der Nachahmung streiten - mit allem, was sich daraus ergibt.