Kann es eine christliche Sunna geben?

Dle Antwort suchen wir in drei Schritten:

 

1) Die Sunna in der Nachahmung: Stellen Sie sich einmal vor, daß unser Herr ein paar hundert Meilen weiter im Süden auf die Welt gekommen wäre, also mitten in Arabien. Dann würde der alttestamentliche Hintergrund vollständig fehlen. Unsere vier Evangelien würden "Hadith", d. h. Tradition, werden: Worte und Taten unseres Herrn, beobachtet und niedergelegt von anderen, aber nicht bezogen auf das Alte Testament, sondern im Kontrast zu den Sitten des Stammes. Wenn Christus dann nichts hinterlassen hätte, was einem Koran entsprechen könnte, so würde es nur "Hadith" geben, nichts anderes. Dann hätten wir jetzt sehr viel interessante und manche erschreckenden Lehren, z. B. würde uns die Hochzeit von Kana lehren, daß der Gebrauch von alkoholischen Getränken erlaubt ist- Sie würde uns zeigen, daß bei einer guten Hochzeit Wein reichlich vorhanden sein muß. Die Episode der Reinigung des Tempels würde ein Beweis dafür nein, daß die Anwendung von Gewalt im Dienst der Religion legitim ist. Das Gleichnis von den Arbeitern, die zu verschiedenen Tageszeiten gemietet wurden, würde uns lehren, daß alle Arbeiter ihren Lohn jeweils täglich bekommen müssen, nicht wöchentlich oder monatlich. Die Frau, die die Füße Jesu wäscht, könnte die Grundlage abgeben für eine Lehre über das Verhältnis von Männern zu Frauen. Die Geschichte vom reichen jungen Mann würde uns klarmachen, daß nur ein armer Heiliger ein echter Jünger des Herrn sein kann.

 

Das sind nur ein paar Beispiele. Das würde passieren, wenn wir in der christlichen Kirche eine solche Sunna hätten. Die Geschichte zeigt aber, daß die Bibel niemals in diesem Sinn verwendet worden ist. Deshalb ist auch kein Material außerhalb des Neuen Testaments gesammelt, um eine Sunna zu bilden.

 

2) Imitation in der Entsagung

 

Die Imitationsfrömmigkeit der Mönche im Mittelalter sollte als eine Imitation der Demut Christi gelten. In Wirklichkeit handelt es sich um Asketentum heidnischer Herkunft. Das Ideal war die Ausrichtung auf das Jenseits; es konnte nur entwickelt werden, indem man alles verachtete und über alles hinwegsah, was mit dieser Weit zu tun hatte. Besonders im Nahen Osten lebten diese Mönche in Höhlen; sie aßen, was gerade kam, oder auch gar nichts; sie kleideten sich in Säcke; sie heulten in der Nacht wie die Tiere, um ihre Sünden zu beklagen; und sie gaben sich mit den verschiedensten Arten der Selbstquälerei ab, um ihr Fleisch abzutöten.

 

Im Westen ist die ganze Bewegung dann etwas besser organisiert worden, und die drei Hauptpunkte des monastischen Systems wurden die Armut, die Ehelosigkeit und der Gehorsam. Aber die Grundidee blieb dieselbe. Die Reformation hat vollständig mit diesem System der Entsagung gebrochen, weil das Ziel darin bestand, der Gnade würdig zu werden.

 

Im Kapitel 15 des vierten Buches seiner Nachfolge Christ! sagt Thomas a Kempis: Je vollständiger ein Mann die niederen Dinge verleugnet, je mehr er von sich selber tötet, desto rascher kommt die Gnade, desto vollständiger kommt sie in ihn hinein und desto höher erhebt sie das freie Herz.

 

Diese Imitation in der Entsagung ist eine Form der Frömmigkeit, die nichts gemein hat mit der Sunna. Die eine denkt nur daran, durch Entsagung von allen Dingen, die in dieser Welt gut sind, das Menschliche zu kreuzigen, die zweite ist gerade daran interessiert, ein normales und gesundes Leben in dieser Welt zu führen. Zweifellos sind beides Formen von Frömmigkeit. Die erste ist der Versuch, Gnade zu verdienen; die zweite versucht, die Vorschriften des Gesetzes zu halten.

 

3) Spirituelle Nachahmung

 

Hier geht es um eine moderne und ziemlich populäre Form der Imitationsfrömmigkeit. Natürlich müssen wir wie Jesus werden, sagt man, aber das bedeutet doch nicht, daß wir seine Art und Weise der Kleidung nachahmen müssen oder seine Weise, beim Gebet die Knie zu beugen, oder seine Methode, die Haare zu schneiden. Das ist ja nur äußerlich und tötet den Geist. Wenn Sie Josus folgen wollen, dann müssen Sie Ihre gottgegebene Persönlichkeit entwickeln, so daß Sie wie Er werden. Sie müssen Ihre Kinder unterrichten, daß sie Sonnenstrahlen für Jesus sind, kleine Kerzen in der Nacht; sie müssen es lernen, die Ecke zu erhellen, in der sie sind. Sie müssen lernen zu fragen: "Was würde Jesus in dann dieser Lage tun?" Wenn er lächeln würde, müssen Sie lächeln; wenn er vergeben würde, dann müssen Sie vergeben; wenn er geduldig wäre, dann müssen Sie geduldig sein, usw.

 

Spirituelle Nachahmer Christi geben sich so viel Mühe, nett, freundlich, liebend, vergebend, höflich, geduldig und voller guter Taten zu sein, so daß die ganze Aufführung zum Schluß den Eindruck macht, daß sie nicht mehr echt und ehrlich ist. Jeder Versuch, Christus nachzuahmen, wird zu einer unwürdigen Karikatur Christi. Deshalb i»t unsere endgültige Antwort gegenüber dem Muslim nicht nur, daß wir keine Sunna im Christentum haben, sondern daß die Imitationsfrörmigkeit der Wahrheit unseres Glaubens überhaupt entgegengesetzt ist. In diesem Zusammenhang noch drei Hinweise: Die erste Forderung für eine echte Imitationsfrömmigkeit besteht darin, daß eine fundamentale Gleichheit bestehen muß zwischen dem Imitator und seinem Vorbild. Ein Knabe wird natürlich seinen Vater nachahmen, eine Tochter ihre Mutter; ein junger Prediger wird seinen Professor oder einen älteren Kollegen nachahmen, aber nicht einen Lastkraftwagenfahrer. Die christliche Imitationsfrömmigkeit geht offenbar davon aus, daß diese Gleichheit zwischen Christen und Christus besteht. Die Mönche meinten, es gäbe eine Gleichheit zwischen ihrer Askese und der Niedrigkeit Christi; die Modernisten meinen offenbar, daß ihre spirituelle Nachahmung dem Modell des geistlichen Lebens Christi folgt. Petrus meinte offenbar, daß es eine Ähnlichkeit zwischen ihm und Christus gab, als er Christus nachahmen und auf dem Wasser gehen wollte (Mt 14). Er entdeckte im letzten Augenblick, daß eine sehr wesentliche Unähnlichkeit zwischen Jesus und ihm selber bestand! Es ist einer der Grundfehler aller Imitationssfrömmigkeit im christlichen Bereich, die absolute Einmaligkeit Christi zu vergessen und zu ignorieren. Wir können Christus nicht nachahmen. Wir glauben, vertrauen und gehorchen ihm; wir verehren ihn und beten ihn an, wie den Vater und den Heiligen Geist. Sunna ist grundsätzlich möglich im Islam, weil Mohammed behauptete, nur ein Mensch zu sein. Man soll ihn weder anbeten, noch zum Objekt des Glaubens machen. Hier gibt es einen klaren Unterschied zwischen dem ewigen Wort und dem Propheten des Islam.

 

Das zweite Erfordernis für echte Nachahmung besteht darin, daß es einen Grund zur Nachahmung geben muß. Sonst wird aus dem Ganzen eine Art Verkleidung. Man möchte gerne so gut sein wie die Person, die man nachahmt. Im Bereich der Religion bezieht sich die Imitationsfrömmigkeit entweder ganz offen auf das Gesetz, wie im Islam, oder sie entwickelt eine getarnte Beziehung zum Legalismus. Man sieht im Islam ganz deutlich, wie die ersten einfachen Versuche der Muslime, wie Mohammed zu sein, zu einem ganz wesentlichen Teil der Scharia entwickelt worden sind. Es ist etwas schwieriger, den getarnten Legalismus zu erkennen, wenn die Leute laut die souveräne Gnade Gottes als eine freie Gabe preisen, und dann, in der Fußnote sozusagen, hinzufügen: Natürlich müssen wir sie erst verdienen. Das ist das, was Rom tut. Und das geschieht auch in vielen Spielarten des modernen Protestantismus. Da preist man Gott für seine freie Gnade; aber er soll sie doch nur denen geben, die die Verbote der Gruppe akzeptieren. Dieser Wunsch nachzuahmen, treibt den Imitator, ob er nun Christ oder Muslim ist, zurück in die Bindung an das Gesetz. Der Gedanke einer Imitation ist eine Verleugnung der Lehre des wahren Christentums, daß Gottes souveräne Gnade absolut frei und umsonst ist.

 

Der dritte Punkt echter Imitationsfrömmigkeit besteht darin, daß man einem Ideal nacheifert. In der Tat ist Imitationsfrömmigkeit genauso sehr Idealismus wie nichtreligiöser Idealismus. Aber Christus ist nicht ein Ideal, dem man versuchen soll nachzueifern, sondern ein Meister, dem man gehorchen soll. Das ist ein großer Unterschied. Das, was Gott für uns tut, das tut Gott selber, da nützt unsere Bemühung gar nichts. Die Reformatoren sprachen nicht von der Imitation, sondern von der "Conformitas Christi"'. Das entscheidende Element in der Konformität mit Christus ist das Tun Gottes.

 

Daß wir dem Tode Christi gleichgestaltet werden, ist nicht nur eine Theorie, nicht nur eine Redeweise oder ein Symbol. Es ist real und aktuell, so wie es der Tod Jesu war, als er schrie. "Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen!" In der Tiefe des dunklen Zweifels, wenn alles, was wir haben, sterben muß und vergeht, werden wir dem Tod Christi gleichgestaltet. Und das ist eine ständige Erfahrung des Christen. Genau wie Paulus nagt "ich sterbe täglich", so wird der Christ täglich dem Sterben Christi gleichgestaltet. Dies Sterben ist nicht Imitation, nicht etwas, was wir bewirken. Es ist Gott, der das Urteil seines Zorns über uns ausspricht und vollzieht.

 

Der Tod aber gewann keinen Sieg über Christus; er konnte ihn nicht halten. Genauso kann der Tod den nicht festhalten, über den Gott das Todesurteil ausgesprochen hat; derselbe Gott des Zornes ist in Christus ein gnädiger und liebender Vater, der die Christen nicht nur dem Tode Christi, sondern auch seiner Au£erstehung gleichgestaltet. Diese Auferstehung ist verborgen mit Christus in Gott. Sie hat nichts damit zu tun, daß wir einige fröhlich gefärbte, attraktive Flicken von Imitationsfrömmigkeit auf das Kleid kleben, mit dem wir unseren alten Adam verbergen. Es geht um das neue Leben, von Gott geschaffen, das sich auf das Wesen Gottes einstellt.

 

So wie die Taufe Zeichen und Siegel dieser Tat Gottes ist, der uns dem Sterben und dem Auferstehen Christi gleichgestaltet, so bezeichnet das Abendmahl dieselbe Sache. Mit dem Abendmahl nehmen wir nicht in irgendeiner mystischen Weise Christus auf, sondern wir nehmen teil an dem Geheimnis seines Leibes und Blutes. Das bedeutet, daß wir seinem Tode gleichgestaltet werden. Den Leib zu essen und das Blut zu trinken, bedeutet den Todesstoß für all das, was nicht dem Wesen Gottes entspricht. Darin besteht nun wirklich die Vergebung der Sünden, so erheben wir uns von unseren Knien, der Auferstehung Christi gleichgestaltet durch den Glauben, den niemand sich selbst nehmen kann, den Gott allein geben kann. Wenn wir uns dem Muslim zuwenden, sollten wir niemals seine Sunna-Frömmigkeit mit etwas Christlichem vergleichen.