Lebensklugheit und der Anspruch Jesu
Was treibt den Muslim zum Widerspruch gegen Prinzipien christlicher Ethik? Die Frage nach der Moral ist eine der dornigsten und verwirrendsten bei unseren praktischen Versuchen, auf Muslime Einfluß zu gewinnen, nicht nur für sie, sondern auch für uns selbst. In dieser Studie können wir nicht sämtliche Aspekte erschöpfen. Doch läßt sich eine allgemeine Richtschnur aufstellen. Einige Beispiele sollen zeigen, wie Muslime reagieren: Ein freundlicher, rechtschaffener und wißbegieriger Mullah suchte den "Lese- und Vortragsraum" einer Gemeinde auf. Er sagte- "Euer Injil gebietet doch, denen zu verzeihen, die gegen euch sündigen. Ihr nehmt das sogar als ein Gebot Gottes an, und doch werft ihr die Sünder aus eurer Gemeinschaft heraus. Wie erklärt ihr das?"
In einem Dorf, in das wir uns begeben hatten, um da zu predigen, erklärte ein junger Bursche, der in einem christlichen College studiert hatte: "Ehe ihr unserem schlichten Dorfvolk etwao von eurem Christentum erzählt, möchte ich von euch eine Frage beantwortet haben: Lebt Ihr nach der Bergpredigt? Antwortet ihr "Ja', dann weiß ich, daß ihr Heuchler seid; denn das tut niemand, und das kann niemand! Antwortet llir mit Nein, dann fordere ich euch auf, geht nach Hause! Tut erst einmal, was ihr predigt, ehe ihr uns lehren wollt!"
lin Zweiten Weltkrieg sagte ein Offizier, der Muslim war, zu mir: "Ich glaube, wir kämpfen einen gerechten Krieg. Aber eure Bibel verwirft Kriege schlechthin. Sie sagt: Widerstehe nicht dem Übel. Sogar Gandhi, der ja von so vielen Christen bewundert und verehrt wird, tat nicht, was die Bibel lehrt, denn er predigte passiven Widerstand. Aber das ist Widerstand - nur auf andere Art. In den gegenwärtigen Krieg sind soundsoviele christliche Nationen mit all ihren Kirchen verstrickt."
Ein moderner, recht gebildeter Muslim erklärte mir: "Der Bischof lebt dort in einem Palast, während seine Bedienten in Hütten mit einem einzigen Wohnraum vegetieren. Seine Kinder genießen die allerbeste Erziehung, die man mit Geld bezahlen kann. Die Kinder seiner Diener wachsen als Analphabeten heran. Vor mehreren Sonntagen hörte ich ihn in einer Predigt von Jesu Gebot sagen, man solle seinen Nächsten lieben wie sich selbst. Paßt das zusammen? Ihr Christen behauptet, unsere Scharia passe nicht in die moderne Welt. Das mag wahr sein, aber eure Morallehre paßt nirgends und niemals. Keine menschliche Gesellschaft kann auf der Grundlage Eures Injil leben."
Drei junge Leute in Regierungsdiensten erklärten gleich bei der ersten Begegnung: "Erklären Sie uns, warum das Christentum versagt hat. Wir kennen keine einzige Nation auf der ganzen Erde, wo die ethischen Lehren Jesu ernstgenommen werden!" Jeder, der mit Muslimen praktische Erfahrungen sammeln konnte, kann ähnliche Fälle berichten. Zwei Hauptpunkte lösen den Widerspruch der Muslime aus: Erstens sei unsere Ethik nicht realistisch; das Ideal sei viel zu hoch angesetzt. Dagegen halte sich Mohammeds Ethik an die Lebenstatsachen, sei verständig und praktisch ausführbar. Zweitens: Wenn jemals Menschen das christliche Ideal in die Praxis des täglichen Lebens umsetzen, sei das Resultat die Auflösung jedes geregelten Gemeinschaftslebens. Mohammeds Ethik habe den Vorzug, die menschliche Gemeinschaft zu konsolidieren. Die Frage, die wir uns selber vorztflegen haben, ist die: Steckt Wahrheit in diesen Einwänden? Oder beweisen sie nur verbohrte Hartnäckigkeit gegenüber den echten Forderungen? Jeder, der die ethische Lehre unseres Herrn versteht, findet in seinem Innern einen gewissen Widerstand dagegen. Aber bis jemand diese Lehren begreift, müssen seine Einwände ernstgenommen und beantwortet werden. Einige Hauptelemente aus der Lehre unseres Herrn geben uns die Grundlage zu einer Antwort. Das Recht, "zu haben und festzuhalten", wird als eines der grundlegendsten menschlichen Rechte anerkannt, und diese Anerkennung ist in jeglicher zivilisierten Gesellschaft eine Notwendigkeit. Es wird von den Menschen erwartet, daß sie ihre Ehre und ebenso ihr Eigentum schützen und verteidigen. Jeder, der das verabsäumt, trägt nicht zum normalen Gemeinschaftsleben mit bei. Aber unser Herr erklärt: Wenn jemand dich beleidigt, indem er dir ins Gesicht schlägt, dann laß Ihn das noch einmal tun. Wenn er dir etwas stiehlt oder raubt, dann gib ihm mehr als das, wen er haben wollte!
Es mag vorkommen, wie in Victor Hugos berühmten Werk "Die Elenden", daß jemand von deiner Edelherzigkeit im Vergeben innerlich erschüttert wird und sich zu Reue und Buße durchringt. Viel wahrscheinlicher ist indessen, daß so jemand einen bis ins Letzte ausbeutet oder quält. Unser Herr gibt uns keine Veranlassung zu glauben, seine Lehre sei auf Nutzen aus. Er ignuriert die Erfordernisse des menschlichen Zusammenlebens.
Das gilt auch für seine Lehre, die die Angehörigen der "brüderlichen Gemeinschaft" betrifft. Wenn mein Bruder gegen mich sündigt, wie oft soll ich ihm vergeben? Siebenmal? Nein, 70 x 7 = 490 mal. Aggressive Egoisten in der Gemeinde könnten daraufhin das Vergeben zur bloßen Farce machen.
Besitz: Die Gesellschaft hat stets Leute geachtet und geehrt, die Reichtum erworben haben, aber unser Herr ist sehr deutlich in seinem Urteil darüber. Eines reichen Mannes Chancen, in den Himmel zu kommen, sind so winzig wie die Möglichkeit, daß ein Kamel durch ein Nadelöhr hindurchkommt. Legt es auf Erden nicht auf materiellen Reichtum an! "Du Narr, schon diese Nacht wird man deine Seele von dir fordern!" "Man kann nicht zwei Herren dienen, Gott und dem Mammon." Die Lehre unseres Herrn über diesen Punkt ist so klar und eindeutig, wie sie nur sein kann.
Nächstenliebe: Nun wollen wir den Palast des Biochofs und die teure Ausbildung seiner Kinder einmal anschauen. Jede Gesellschaft hat die Aufgabe, einander widerstrebende Ansprüche auszugleichen, so daß keine Gruppe die Rechte anderer Gruppen verletzt. Ein Mensch hat Verantwortung für seine Familie entsprechend seiner wirtschaftlich-gesellschaftlichen Lage. Doch sein Diener hat ebenfalls Rechte. Geraten die Rechte und Verantwortungen in Konflikt, dann sucht die Gesellschaft eine Regelung. Niemand erwartet, daß ein Bischof in einer Hütte mit nur einem Raum wohnt oder daß andererseits ein Diener einen Palast für sich hat. Wohl aber muß da ein vermittelnder Ausgleich geschaffen werden. Liebte der Bischof die Kinder anderer genauso wie seine eigenen, könnte er am Ende keinem eine angemessene Erziehung angedeihen lassen.
Die Ethik, die all diese verwickelten Probleme behandelt, hat etwas mit Lebensklugheit zu tun, weil das, was praktisch klug ist, auch das Beste für alle sein sollte.
Unser Herr dagegen kümmerte sich überhaupt nicht um diese Art alltäglicher Verhaltensregeln. Er schrieb dem Bischof nicht vor, wie er im Vergleich mit seinen Bediensteten zu wohnen und zu leben habe, oder wie der Diener dazu käme, vom Bischof seine Menschenrechte zu erlangen. Er sagt lediglich zu dir - nicht zu einem Dritten, sondern zu dir! - Der Wille Gottes ist, du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. Welche unmöglichen Konsequenzen dies haben mag, kümmert allem Anschein nach den Geist unseres Herrn gar nicht. Ebensowenig sagt er, dies Gebot lasse einen versöhnlichen Ausgleich der einander widerstrebenden Ansprüche zu.
Die Kirchengeschichte zeigt zwei Tendenzen in der Entwicklung der Ethik. Beide setzen voraus: Es gibt im Neuen Testament einen gewissen vernünftigen Sozialkodex. Die eine Richtung möchte die Vorschriften betonen, die das Verhalten des einzelnen regeln sollen (im Unterschied zu denen, die sich auf die Gesellschaft beziehen). Bspw. werden Ehebruch, Ehescheidung usw. behandelt, als ob das Gruppenurteil darüber identisch sei mit der Akzeptanz eines göttlichen Gebots, wogegen die Frage nach der Autorität der Regierung (in England) durch die Doktrin vom göttlichen Recht der Könige beantwortet wurde. Während also die Moral der Völker ständig unter kirchlicher Aufsicht stand, konnten Könige und Regierungen böse, despotisch und ungerecht handeln, und soziale Ungleichheiten konnten straflos begründet und aufrechterhalten worden. Wenn Regierungen ungerecht waren, hieß es, das sei eine Strafe für die Schlechtigkeit den Volkes oder eine Prüfung für den Glauben. Die Folge waren ein einigermaßen rechtschaffenes Individualleben - und Quietismus in Fragen dar Sozialethik. Wenn die Menschen es satt hatten, auf die Belohnung im Jenseits zu warten, da taten sie eines von beidem: Entweder sie verließen die Kirche, oder sie wandten sich von neuem der Lehre unseres Herrn zu.
In diesem Zusammenhang ist die einzige aus der Geschichte der Kirche zu lernende Lektion die: Die Kirche war zu keiner Zeit imstande, sich von Jesu Ethik zu lösen oder sie zu ignorieren. Sie ist allezeit von der Lehre unseres Herrn in Bann gezogen, herausgefordert und beschämt worden.
Wie kommt es, daß wir die Autorität des Apostolats völlig anerkennen und dennoch ganz gelassen selber entscheiden, welche ethische Weisung von Paulus oder Petrus und den übrigen Verfassern des Neuen Testaments wir als für unser Zeitalter gültig übernehmen? Gegenüber den Worten Jesu in den Evangelien können wir uns nicht so verhalten. Und zwar deshalb nicht, weil wir glauben, daß Jesus in all seinem Sein, Sagen und Tun, einschließlich seiner ethischen Lehren, uns Gott offenbart. Wir dürfen daher sagen- Die Moral Jesu zeigt uns, wie der Mensch nicht ist und wie Gott ist, bezogen auf den jeweils aktuellen Punkt. Unseres Eerrn Lehre bezieht nicht 14enschen auf Menschen, sondern Gott auf den Menschen. Der Mensch, der in Gottes Gegenwart steht, begreift dann: Er wird nicht nach dem Maß seiner eigenen Anstrengungen zum Guten hin, sondern nach der Norm beurteilt, die in der Ethik Jesu zum Ausdruck kommt.
Ein wesentlicher Bestandteil der grundlegenden Bewegung von Gott zum Menschen ist die ethische Lehre Jesu. Wenn Gott sich in und durch Jesus Christus zum Menschen hin bewegt, dann ist in dieser Bewegung Ethik enthalten. Die auf den Menschen hin gerichtete Bewegung Gottes geht aber nicht in ungebrochener Linie durch den Menschen zu seinem Nächsten hin. Das Evangelium wird jedem Menschen gepredigt, und darin bewegt sich Gott auf jeden Menschen hin. Diese Bewegung Gottes wird im Glauben zur Quelle und zum Ursprung der Bewegung jedes Gläubigen auf seinen Nächsten hin und bildet die starke Kraft dahinter. Auf diese Weise hat die von Jesus gelehrte absolute Ethik immer auch Bedeutung für die bloße Alltagsmoral der Kirche gehabt. Die Tatsache, daß der Mensch nie die Höhe der absoluten Vollkommenheit der Ethik erreichen kann, ist gerade der Ansporn, der ihn anstachelt; so trifft er seine eigene, relativ gute Wahl und handelt demgemäß. Aber unsere Entscheidungen bleiben relativ; ihnen kommt nicht der Anspruch zu, daß sie Gottes Vollkommenheit abbilden. Zusammengefaßt: Die absolute Ethik Jesu gehört in Gottes Bewegung zum Menschen hin. Die Lebensweisheit des Menschen gehört in die Bewegung des Menschen zu seinem Nächsten hin, aber die letztere hat ihren Impetus, ihre Quelle und Stärke in der ersteren. Einerseits kann kein Mensch den Daumen drehen und murmeln, der gegenwärtige Zustand entspreche dem Willen Gottes; andererseits ist kein Mensch imstande, seine Unvollkommenheiten mit einem Heiligenschein zu umgeben.
Der Muslim pflegt davon auszugehen, daß Mohammed und Jesus nach denselben Grundsätzen und auf gleicher Ebene gehandelt hätten. Er verkündet laut und stolz: Die Moral Mohammeds und des Islam ist praktisch, realisierbar und eine vollkommene Richtschnur zur Lösung all der widersprüchlichen Forderungen, die das Leben in Gemeinschaft zwangsläufig mit sich bringt. Er nimmt an, Jesus habe, genauso wie Moses vor ihm, versucht, seinen Jüngern so einen brauchbaren ethischen Kodex für ihr Leben im Alltag zu geben.
So ist es unsere erste Aufgabe, den Muslim zu der Einsicht zu bringen: Jesus wirkt nicht nach denselben Grundsätzen und nicht auf derselben Ebene wie Mohammed. Jesus offenbarte Gott; und er sah den Menschen immer, auch in der Ethik, vor Gott. Das gesamte Problem ist also nur eine andere Speiche des Rades, dessen Achse die Offenbarung ist. Der große Stein des Anstoßes, den nur Gott entfernen kann, ist die Tatsache, wer die Moral Jesu als das, was sie tatsächlich ist, akzeptiert, der muß dann auch Jesus "in Bausch und Bogen", als Ganzes bejahen. Jesus muß von ihm als Sohn des Vaters, als offenbarer Gottes, als ewiger Logos, als Lamm Gottes, als Gottes Opfer für uns hingenommen werden.