Politik
Das Christentum bringt als prophetische Religion eine notwendige Spannung zwischen zwei sich offenbar gegenseitig ausschließenden Lehren über Gott. Wir glauben, dass Gott der Schöpfer und der Richter ist. Wäre er nur der Schöpfer, dann wären Politik und Kultur, wie sie nun gerade sind, etwas, das von Gott kommt. Wenn die Bedingungen für uns günstig sind, hätten wir dankbar zu sein; wenn sie schwierig wären, würden wir uns in Geduld üben und versuchen, das Beste daraus zu machen. Aber wenn wir nun verkündigen und glauben, dass Gott der Schöpfer und der Richter ist, dann bedeutet das, dass die Schöpfung, wie sie jetzt ist, unter seinem Gericht steht. Politik und Kultur kann man also nicht einfach als Schöpfung Gottes und seinem Willen entsprechend ansehen. Sie stehen unter seinem Gericht, sie können verurteilt werden.
Die Spannung sieht man noch deutlicher am Gebot der Nächstenliebe. Wenn dies Gebot als Gesetz verstanden wird, wie der Muslim die Scharia auffasst, dann ist eine Erfüllung dieses Gesetzes in der Politik, aber auch in anderen Sektoren völlig unmöglich. Man geht z.B. in eine politische Partei wegen eigener Interessen; man sorgt zuerst für die Wohlfahrt der eigenen Familie. Das steht im Widerspruch zu dem Befehl, den Nächsten wie sich selbst zu lieben. Es sieht so aus, als lasse das Christentum mit dieser unpraktischen Ethik sich nicht wirklich mit konkreten Situationen verbinden. Der Quietismus meint, dass Gott es so gewollt habe, und das Gericht Gottes stellt man sich vor als einen richterlichen Akt, der aber erst am Jüngsten Tag erfolgt. Wenn andererseits die Menschen vergessen, dass die Erlösung Gottes Werk ist, dann fassen sie das Liebesgebot einfach als klares Programm auf, das innerhalb der menschlichen Möglichkeiten leicht erfüllt werden kann. Das Resultat ist ein oberflächlicher Optimismus, der den unheimlichen Zugriff des Bösen auf die Menschheit ignoriert und so das Evangelium wirkungslos macht.
Ein Rückblick auf die Entwicklung im Islam wird uns die Schwierigkeit verstehen helfen, auf die wir stoßen. Der Islam, sofern er noch arabisch ist, weiß kaum etwas von Politik. Vor Mohammeds Zeit waren die Araber aufgesplittert in Hunderte von kleinen Stämmen, die miteinander um das Überleben kämpften. Mohammed und Abu Bakr schafften es, sie in einem Staat zu vereinigen, indem sie die Loyalität zum Propheten über die Treue zum eigenen Stamm stellten. Die Gemeinschaft war also theokratisch begründet. Gehorche Allah und seinem Propheten, heißt es im Koran immer wieder. Das Gesetz war die Scharia; sie galt als von Gott gegeben. Mit der Ausführung war der Prophet, später der Kalif beauftragt. Es hat aber niemals reibungslos funktioniert. Sogar während der ersten zweihundert Jahre, als die islamischen Armeen noch überall siegreich waren, wurde diese einfache Grundordnung nicht vollkommen beachtet. Sünde, Unwissenheit, Machthunger und fehlgeleitete Begeisterung haben die Theokratie von Anfang an beeinträchtigt. Eine Entwicklung setzte ein, die schließlich zur Abschaffung des Kalifats Anfang dieses Jahrhunderts führte. Damit erlosch das Ideal eines einzigen theokratischen Weltstaates.
In der Zeit der Kalifen, als Tausende von Nicht-Arabern und Nicht-Muslimen im Dienst des Staates standen, entstand der Islam, wie wir ihn heute kennen. Vielleicht war die einzige Veränderung das Aufkommen des Dogmas über die "Neuerung". Es verbietet jede neue Interpretation des Korans und die Einführung von irgendetwas Neuem in den Islam. Dadurch wurde der Islam starr und unfruchtbar. Als der westliche Einfluss erstarkte, führte das zu fatalistischer Resignation. Die Idee des Islam von einem Weltstaat, der zugleich weltlich und geistlich ist, wurde immer mehr ein Wunschtraum.
Als der Erste Weltkrieg begann, entstanden unabhängige Staaten. Die Türkei blühte auf, gefolgt vom Irak, Iran und anderen. Zuletzt wurde Pakistan aus Indien herausgeschnitten. Jeder dieser Staaten - im Unterschied zu früher - besteht auf kultureller und politischer Unabhängigkeit; gleichzeitig besteht jeder darauf, dass er muslimisch ist. Alle möchten ihren rechtmäßigen Platz in der Familie der Völker einnehmen.
Es gibt allerdings keine Übereinstimmung über den rechten Weg. Eine radikale Schule fürchtet, der westliche Einfluss könne dazu führen, dass der Islam zusammenschrumpft. Für sie bedeutet die strenge Befolgung der islamischen Tradition in jedem Bereich des Lebens den Weg zur Rettung. Sie behaupten, dass die berühmte Scharia heute noch besser zur Anwendung geeignet ist als damals, als die vier Imane sie ausgearbeitet haben. Die einzige Veränderung, die notwendig ist, behaupten sie, liegt nicht in dem legalen System, sondern in den Herzen der Muslime. Für diese Gruppe der radikalen Religiösen ist das Vorbild des Kalifats noch gültig, obwohl sie weit davon entfernt sind, es in der Gegenwart durchzuführen, noch sich einig sind, wie es in der Zukunft eingeführt werden soll.
Daneben steht eine liberale Schule. Es fragt sich, ob viele Führer dieser Schule überhaupt ein stärkeres persönliches Interesse an der Religion haben; aber der Islam als Symbol nationaler Einheit ist sehr wichtig. Hier ist es ein beliebtes Verfahren, westliche Methoden, westliche Kultur, Rechtssysteme, Wirtschaftsformen zu übernehmen und anhand des Korans zu beweisen, dass diese Dinge im Grunde islamisch sind. Die westlichen Nationen haben sie in vergangenen Zeiten von den Muslimen übernommen, eine Wiederübernahme in muslimischen Ländern werde sie wieder wahrhaft islamisch machen. Wie oft hören und lesen wir, dass wahrhafte Demokratie islamisch sei! Nun ist eine Demokratie ein Staat, in dem die oberste Gewalt sich vom Volk ableitet. In einem theokratischen Staat ist die oberste Gewalt in Gottes Hand, der durch einen Stellvertreter regiert. Aber wirkliche Demokratie sei islamisch. Wie kommt man um diese Schwierigkeit herum? Indem die Leute den Stellvertreter Gottes wählen! So kann man westliche Lebensweisen mit dem Islam verbinden.
Jemand, der mit Muslimen gelebt oder die Entwicklung in nur einem Vierteljahrhundert verfolgt hat, hat Veränderungen gesehen, die man 1914 für völlig unglaublich hielt. Die Probleme sind neu; sie sind dringend; und die Muslime wissen das auch. Das Verständnis der Religion wird immer stärker ein praktisches Konzept. Man kann das auch so ausdrücken: Ursprünglich war der Islam die Grundlage, und alle übrigen Faktoren mussten sich danach richten; heute wird die Religion danach beurteilt, wie sie die Zwecke der Politik, der Wirtschaft, der Kultur usw. fördert. Der Islam ist eine politische Religion; heute wird er zum Diener der Politik.
Dies sind die Bedingungen, unter welchen Sie die Botschaft verkündigen müssen, die in sich die Spannung zwischen Zeit und Ewigkeit trägt, die Spannung zwischen unserem unvollständigen Kampf gegen die Sünde und Gottes erlösender Kraft. Der Pakistani und der Ausländer werden mit der Frage der Politik auf ganz verschiedene Weise fertig werden müssen. Der Ausländer ist hier, weil die Regierung von Pakistan ihm das erlaubt hat. Er lebt mit einem Visum; er kann das Land verlassen, wenn die Umstände für ihn zu schwierig werden. Er ist ein Gast, und jedermann erwartet von ihm, dass er als Gast die Regeln der Gastfreundschaft beachtet. Ein Mensch, der über das Wochenende im Haus eines Freundes zu Gast ist, fängt nicht an, sich in die Erziehung der Kinder des Hauses einzumischen. Auf der anderen Seite steht der Pakistani; er lebt in seinem eigenen Land, und als Christ ist er verpflichtet, Mitverantwortung für Politik und Kultur in seinem Land zu übernehmen. Der Fremde wie der Einheimische haben dasselbe Evangelium zu verkündigen. Beide sollten sich selbst in den Kampf als Mensch unter Menschen hineinstellen. Natürlich gibt es bestimmte Bereiche, in die ein Missionar sich nicht einmischen darf, aber im eigentlichen Ringen sind der einheimische und der fremde Verkündiger mit denselben Schwierigkeiten konfrontiert.
Das Leben im Orient lässt sich nicht in bestimmte Bereiche aufgliedern. Es ist eine Ganzheit, in der alle Bereiche miteinander verbunden werden. Das gilt besonders vom Islam. In einer Vierteljahres-Zeitschrift über islamischen Wiederaufbau namens "Arafat" erschien 1948 ein Artikel über die Verfassung in Pakistan. Folgender Paragraph wurde vorgeschlagen: "Während die nichtmuslimischen Bürger das Recht haben sollen, in ihrer eigenen Gemeinschaft und anderen Gemeinschaften, die nicht muslimischer Religion sind, ihren eigenen religiösen Glauben zu predigen, soll alle missionarische Tätigkeit, die sich an Muslime richtet und das Ziel hat, sie zu einem anderen Glauben zu bringen, als Verbrechen gelten und durch Gesetz bestraft werden."
Schon der Versuch, das Christentum zu predigen, ist ein politisches Geschehen. Er gilt als illegal. Aus muslimischer Sicht ist das Argument logisch. Das, was Sie tun, führt dazu, dass der islamische Staat schwächer wird, weil Sie versuchen, Konvertiten zu gewinnen. Zwar wird dieser Paragraph wahrscheinlich niemals in die Verfassung hineinkommen, aber Sie können sicher sein, dass die Haltung von Millionen von Muslimen darin zum Ausdruck kommt.
Aber wie kann ein wahrer Christ der Politik überhaupt aus dem Weg gehen? In dem Moment, in dem er seinen Mund öffnet, ist er mitten in der Politik, ob er es will oder nicht, jedenfalls, wenn er das Evangelium predigt. Derjenige, der die Botschaft der Kirche bringt, ist ein Botschafter Christi. Zum Inhalt seiner Proklamation gehören das Gericht Gottes und die Gnade Gottes. In Christus erfolgt die Verurteilung des alten und die Verheißung des neuen Lebens. Diese Botschaft ist deswegen die Proklamation einer letztgültigen Hoffnung auf einen neuen Himmel und auf eine neue Erde, mit anderen Worten: auf das Königreich Gottes, welches Gottes endgültige Antwort auf die Sünde des Menschen ist. So kann die Kirche niemals in einem theokratisch verstandenen Staat in Frieden leben. Der einzige wirklich theokratische Staat ist das Königreich Gottes. Wenn Sie Christus predigen, sind Sie direkt und indirekt an politischer Polemik beteiligt. Das Königreich Gottes in Christus ist nicht von dieser Welt; der Kampf geht nicht um die Herrschaft in dieser Welt; aber wenn man den letztgültigen theokratischen Staat proklamiert, in dem Christus der König ist, dann ist jeder andere theokratische Staat, auch ein islamischer, erschüttert und wird sich angegriffen fühlen. Dieser Inhalt der Proklamation christlicher Lehre ist nicht eine Sache der Auswahl; wenn man hier etwas auslässt oder abmildert, verrät man den Herrn und seine Botschaft. Es gibt noch einen anderen Punkt. Ein Christ kann niemals einer der Parteien, die an einem politischen Konflikt beteiligt sind, eine religiöse Weihe geben, wenn seine Botschaft ernst und echt sein soll. Wir können ruhig ein konkretes Beispiel aus den Tagen vor der Teilung Indiens anwenden. Es wurde zu einem sieben Tage langen Non-stop-Gebetstreffen eingeladen, geleitet von einem Missionar, aber Menschen aller Glaubensformen waren eingeladen. Sie sollten für die Arbeit der konstituierenden Nationalversammlung und für die Gesundheit und das Wohlergehen von Gandhi und Nehru beten. Es hört sich gut und fromm an. In der Wirklichkeit nahm dieser Missionar mit seiner Aktion Partei gegen die Briten und die Muslime zugunsten der Hindus. Nicht nur dadurch, dass er so tat, als wenn Christentum und die Christen auf der einen Seite zu stehen haben. Oder warum sollte die Gesundheit und Wohlfahrt von Lord Wavell und Jinnah nicht in die Gebete eingeschlossen werden? Und wenn dieses Gebetstreffen nicht eine politische Absicht hatte, warum sollte es dann in den Zeitungen spektakulär angezeigt werden als eine Sieben-Tage-Non-Stop-Schau? Aber das Christentum ist nicht auf der Seite von irgendjemandem: Das Christentum ist oberhalb und über allem. Es zeigt allen Menschen überall die Sündigkeit und Zerbrochenheit ihrer Politik. Es lehrt die Menschen, dass sie keineswegs in der Lage sind, die Bedingungen zu schaffen, unter welchen der Mensch seinen Nächsten wie sich selbst lieben kann.
Bei einem Zusammenstoß zwischen menschlichen Gruppen ist kein Außenstehender in der Lage, von einem höheren Standpunkt aus die tatsächliche Wahrheit, die beide Parteien betrifft, zu sehen und zu verstehen. An welcher Norm will der Außenseiter die Verdienste und die negativen Punkte der beiden Seiten messen? Jeder Maßstab, den er anwenden will, ist im Konflikt umstritten.
Wenn unser Herr verkündigte, dass das Königreich Gottes nahe herbeigekommen sei, dann brachte er es in Beziehung zur konkreten Situation, ob es nun die Heilung eines Aussätzigen oder die Entlarvung eines Heuchlers war. In Ihrer konkreten Situation, wo Sie einen Muslim treffen, sollte Ihre einzige Sorge sein, wie Sie Christus in diese Situation hinein verkündigen können. Das bedeutet natürlich zuerst, dass man den Versuch macht, das Gemüt der Menschen unter den Einfluss der Lehre Christi zu bringen. Ich will ein Beispiel verwenden, um die Sache klarzustellen. Der Muslim wird mit Leidenschaft für oder gegen die Möglichkeit argumentieren, ob die Scharia als das Gesetz eines Landes durchgesetzt werden kann. Der Christ wird antworten, dass weder die Durchsetzung der Scharia noch das Unterlassen dieses Versuches die Menschen näher zu Gott bringt, denn die Scharia hat keine erlösende Qualität in sich. Wenn man sie ausreichend revidieren kann, so dass sie in unseren Zeiten anwendbar ist, dann ist sie immer noch nur der schwache Versuch der Menschen, die Sünde niederzuhalten, aber sie ist nicht Gottes Antwort auf die Sünde. Gottes Antwort auf die Sünde ist "ein neuer Himmel und eine neue Erde". Der Christ sollte immer interessiert daran sein, dass das Übel unterdrückt wird (natürlich zunächst in ihm selber), und er ist immer daran interessiert, für gerechte und faire Bedingungen zu kämpfen in allen Beziehungen des Lebens, aber er ist sich der Tatsache bewusst, dass aus menschlichem Wissen niemals das Königreich Gottes hervorgehen wird.
Die Spannung des prophetischen Christentums muss auf konkrete Probleme angewendet werden. So kann der Muslim mit der christlichen Polemik konfrontiert und sein Gemüt erleuchtet werden, durch den Heiligen Geist Christus als den Erlöser der Welt zu erkennen.
Soweit können der Ausländer und der Einheimische miteinander gehen. Aber der Einheimische muss noch einen Schritt weitergehen. Hier erscheint der zweite Aspekt unseres Problems. Jeder Mensch ist in irgendeinem Land geboren und ist Mitglied irgendeiner Gemeinschaft. Als solches ist er mitverantwortlich mit allen Bürgern für die Politik und die Kultur seines Landes. Wenn man eine politische Partei mit einem religiösen Namen versieht, ist das dämonisch. Man verwendet dann Gott für Parteizwecke. Die Entwicklung in Indien ist vom Anfang dieses Jahrhunderts an so verlaufen, dass nicht nur die Politik, sondern auch wirtschaftliche Probleme religiöse Firmenschilder bekamen. Wie sich die Sache auch im Hinduismus und im Islam verhält, so viel ist ganz sicher: Keine politische Partei hat das moralische Recht, sich selber "christlich" zu nennen.
Berechtigte Interessen von Gruppen und all die Dinge, die mit dem Kampf um die Macht unter sündigen Menschen verbunden sind, führen in jeder Partei und erst recht in einer christlichen Partei dazu, dass das Gebot Christi an seine Kirche über das Zeugnis dort einfach gar keinen Platz findet. Es würde dort wirken wie ein Sprengstoff, der Parteiabtrünnige zu Trümmern schlägt.
Der Christ aus Pakistan ist politisch in einer schwierigen Lage. Wenn es eine Partei gäbe, die kein religiöses Firmenschild hätte, der man mit gutem Gewissen beitreten könnte und wo man in jeder konkreten Situation auch als Christ arbeiten und reden und leben könnte, dann wäre diese Schwierigkeit gelöst. Aber wie sich die Lage verhält, ist das leider unmöglich.
Aber während er sich mit Recht wehrt, irgendeiner Partei zu folgen, kann er doch zur selben Zeit eine ganze Menge tun, um Anderen zu helfen, Christen wie Nichtchristen, Fehler im gegenwärtigen System zu sehen. Er kann eine sehr positive Beziehung zur Politik haben, nicht, indem er gegen diesen oder jenen Kandidaten kämpft, sondern gegen das ganze System, in dem eine Religion den Zielen einiger Politiker dienen muss.